Die ungeheure Menge von zwölf Millionen Tonnen Lebensmitteln landet in Deutschland jedes Jahr im Müll. In der EU sind es 88 Millionen Tonnen. Der Staatenbund hat sich das Ziel gesetzt, die Wegwerfmenge bis 2030 zu halbieren. Die Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft, Julia Klöckner (CDU), gründete dazu das Nationale Dialogforum zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung, das an diesem Mittwoch zum zweiten Mal tagt. Doch die frühere Ernährungsministerin Renate Künast (Grüne) bezweifelt, dass mit Klöckners Plänen die Missstände beseitigt werden können.
SZ: Frau Künast, wie konnte es so weit kommen, dass wir so viele Lebensmittel wegwerfen?
Renate Künast: Wir haben ein System etabliert, in dem immer alles überall vorhanden sein muss. Zwei Minuten vor Ladenschluss können Kunden noch die weltweite Palette von Obst und Gemüse kaufen. Darin liegt ein Fehler. Weniger wäre mehr. Saisonaler und regionaler wäre mehr.
Das hört sich nach Einschränkung an und nach alten Grabenkämpfen der Grünen gegen den Rest.
Gerade bei jungen Leuten sehe ich, dass sie genervt sind von dieser Debatte. Sie wollen ein Recht auf Zukunft und nicht auf Obst und Gemüse zu jeder Jahreszeit. Sie merken, dass Letzteres eine Welt vorgaukelt, die keine Lebensperspektive mehr bietet. Sie ahnen, dass eine Zeit kommt, in der Möglichkeiten eingeschränkt werden und man sich dem Klimawandel anpassen muss. Die Landwirtschaft ist weltweit für etwa 15 Prozent der Klimagase verantwortlich, hier müssen wir etwas ändern. Aber es gibt die Bereitschaft und das Interesse, anders zu leben.
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Was bedeutet das für die Lebensmittelproduktion?
Wir müssen weg von der Idee des ewigen Wachstums. Dass wir aus dem Boden immer mehr und immer schneller etwas herausholen wollen. So haben sich Produktionsweisen mit viel Chemieeinsatz etabliert. Als Folge wird überall und zu jeder Zeit Essen angeboten, meistens hoch verarbeitete und überzuckerte Lebensmittel. Ernährung hat hier nichts mehr mit ernähren zu tun. Es ist nicht gut für den Körper, und von Genuss kann gar keine Rede mehr sein. Da steckt auch Raubbau drin, denn für die Produkte braucht man billiges Palmöl oder Zucker, man rodet deshalb Wälder für Ackerflächen und bildet Monokulturen. Ein anderes Beispiel ist die Vorstellung, dass Lebensmittel schön sein müssen. Wenn ein Apfel ein paar Schrunden hat oder eine Möhre krumm gewachsen ist, werden sie weggeworfen. Wenn wir uns angewöhnen würden, dass dies trotzdem gute Waren sind, wären wir einen Schritt weiter.
Wie bewerten Sie die Maßnahmen der Regierung gegen das Wegwerf-Problem?
Sie sind nicht ehrgeizig genug und es läuft zu langsam. Das Ministerium ist zwar mit allen Teilen der Lebensmittelproduktion im Gespräch, doch Zielvereinbarungen für die einzelnen Sektoren wie Verarbeitung oder private Haushalte kommen in dieser Legislaturperiode wahrscheinlich gar nicht mehr zustande. Dazu basiert alles auf Freiwilligkeit, doch ohne rechtliche Vorgaben wird es nicht gehen. Da könnten wir vom Ausland lernen.
Andere Länder machen es besser?
Zumindest werden hier und da Probleme konsequent angegangen. In Frankreich gibt es ein Gesetz für große Supermärkte ab 400 Quadratmeter Verkaufsfläche, wonach diese unverkaufte, aber noch genießbare Lebensmittel nicht entsorgen dürfen. Diese müssen gespendet, zu Tiernahrung verarbeitet, kompostiert oder zur Energieproduktion verwendet werden. Das finde ich schon mal gut, wenngleich man die vorgelagerten Stufen in der Produktion einbeziehen müsste. Italien hat das sogenannte Gute-Samariter-Gesetz. Es schützt Lebensmittelspender vor Strafen, wenn sie Essen weitergeben, das am Ende doch nicht mehr genießbar ist. Doch die Bundesregierung lehnt einen solchen Haftungsausschluss ab.
Wieso?
Vielleicht glaubt sie, dass wir hilflose Menschen sind, die nichts mehr schmecken und riechen können. Dabei schätzt doch jeder zu Hause im Kühlschrank ab, ob Lebensmittel noch genießbar sind oder nicht. Die Gefahr der zivilrechtlichen Klage für Lebensmittelspender ist da ein unnötiger Hemmschuh. Ein anderer Missstand wurde von uns lange angeprangert, bis das Bundesfinanzministerium nun reagierte: Wegen anfallender Umsatzsteuer war es für den Handel billiger, verderbliche Ware wegzuwerfen als zu spenden. Im sogenannten Bäckererlass wurde das geändert, die Umsatzsteuer auf gespendete verderbliche Ware entfällt nun. Wir brauchen den Steuererlass aber auch für falsch etikettierte Waren oder solche, die Händler aus dem Regal haben wollen, weil sie sich schlecht verkaufen.
Welche Erwartungen haben Sie an das Nationale Dialogforum?
Das arbeitet in den Grenzen, die die Ministerin gesetzt hat. Sie hat ein Freiwilligensystem aufgebaut und es wird sicher hier und da Vereinbarungen geben. Doch mit den aktuellen Maßnahmen und bei dem Tempo kann ich mir nicht vorstellen, dass Deutschland die Menge an weggeworfenen Lebensmitteln bis 2030 halbiert. Dazu müssen wir für eine andere Agrarpolitik in der EU kämpfen und in Deutschland neue Strukturen aufbauen, etwa bei der Gemeinschaftsverpflegung in Kantinen, Schulmensas oder in den Kitas. Es stört mich, wenn aus dem Bundesministerium für Landwirtschaft stattdessen Vorschläge für die Verbraucher kommen, was man aus Lebensmittelresten noch Schönes machen kann. Ich brauche kein Ministerium, das mir als Privatperson Kochanleitungen präsentiert. Es muss stattdessen die großen Strukturen verändern.