Zwei Mythen halten sich hartnäckig in Europa. Erstens, dass die EU immer schlagkräftiger, immer dichter werde, weil es ihre Mitglieder so wollen. Und zweitens, dass diese Mitglieder nicht gegen die Union, oder schlimmer noch: an der Zerstörung der EU arbeiteten. Beide Annahmen sind falsch, die hässliche Realität sinkt erst langsam ins Bewusstsein ein: Selten stand die EU derart unter Druck, die Gegner der Union betreiben deren Zerstörung inzwischen sogar von innen heraus. Noch sind sie in der Minderheit. Aber die Mehrheit muss sich ihrer erwehren, wenn sie nicht gefressen werden will.
Auf dem Herbstgipfel der Staats- und Regierungschefs an diesem Mittwoch und Donnerstag wurden diese Konflikte nicht offen ausgetragen. Unter den Anhängern eines integrierten, also verbundenen und verwobenen Europas wächst das Bewusstsein für die Gefahr erst langsam.
Die Union wird provoziert wie nie zuvor. Ihre Feinde sitzen im Inneren und wollen sie zerstören
Integration hat nichts mit dieser lieblichen Europaseligkeit zu tun, die besonders in Deutschland zu beobachten ist. Integration ist das Codewort für die Bereitschaft, sein politisches Schicksal mit dem der anderen zu verknüpfen zum gemeinsamen Nutzen. Gerade hat das European Council on Foreign Relations diese Bereitschaft bei allen Mitgliedsstaaten gemessen, mit ernüchterndem Ergebnis: Der Wille zu mehr Europa, also zur stärkeren Integration, ist nur in Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg festzustellen (in dieser Reihenfolge).
Bei den übrigen 24 Staaten überwiegt ein pragmatischer bis nationalistisch-egoistischer Beziehungswunsch. Nähme die Gemeinschaft starken Schaden oder bräche sie gar auseinander - der überwältigenden Mehrzahl der Europäer würde das nicht den Schlaf rauben.
Europa ist also nach wie vor für die meisten seiner Bürger (und Regierungen) ein Kosten-Nutzen-Projekt, dem die Mehrheit folgt, weil sie sich davon einen Vorteil verspricht. Doch diese Mehrheit bröckelt, weil mindestens drei Angriffe gleichzeitig auf die Gemeinschaft geführt werden: der Austritt Großbritanniens, der - sollte er falsch gesteuert werden - zum Vorbild genommen werden könnte für Nachahmer; die Regelverletzungen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie durch Staaten wie Ungarn und Polen; der gezielte Angriff auf die gemeinsame Währung durch Italien, das durch massive Überschuldung und Verstöße gegen die Stabilitätsregeln eine Finanz- und Währungskrise provozieren könnte. Damit würde die Euro-Gemeinschaft zu der Entscheidung gezwungen, ob sie sich zur Rettung der Währung dieser Erpressung beugt - oder ob sie mit erheblichem Kollateralschaden den Austritt eines Gründungsmitglieds in Kauf nimmt.
Die Europäische Union war immer schon eine Krisenunion. Doch derart viele innere Probleme, angeheizt durch eine instabile Welt mit einem selbstbewussten, schleichend aggressiven China, einem feindseligen Russland und einem orientierungslosen und destruktiven Amerika, könnten die Gemeinschaft überfordern.
Die neue Qualität der Probleme liegt vor allem darin begründet, dass ihre Urheber nicht nur auf den nationalen Vorteil aus sind, sondern dass sie tatsächlich die Zerstörung der Europäischen Union zum Ziel haben.
Der italienische Rechtspopulist Matteo Salvini macht aus seiner Geringschätzung kein Hehl, er hält die EU für ein Beherrschungsmonster. Für die polnische Pis oder die ungarische Fidesz ist die EU Projektionsfläche aller Übel. Fremdbestimmung ist der Schlachtruf, mit dem die Populisten ihre Mehrheiten hinter sich sammeln. In Großbritannien hat das zum Austrittsvotum geführt.
Die italienische Causa wird nun zum Testfall für den Umgang mit dieser Zerstörungsbereitschaft. Während die Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn gären und durchaus eine Weile (bis zu einem politischen Stimmungsumschwung in den Ländern) in der Schwebe gehalten werden können, ist der italienische Haushaltsentwurf eine Provokation, die nicht unbeantwortet bleiben darf und wird. Dafür sorgen schon die Märkte. Der Mechanismus funktioniert wie weiland in Griechenland: Verschuldungsspirale, Zinssteigerung, Staatsbankrott - was auch Gläubiger in ganz Europa überfordert. Eine teuflische Abhängigkeit.
Die EU zeigt gerade beim Brexit, dass sie dem Fanatismus ihrer Gegner widerstehen kann - wenn sie geschlossen und entschlossen bleibt. Was gegenüber London auch dank einer durchaus vernunftbegabten Premierministerin funktioniert, könnte in Italien mit einer klaren Ansage an die Rechtspopulisten und (mit geringerer Aussicht auf Erfolg) an die irrlichternde Fünf-Sterne-Bewegung klappen: Diese Koalition ist es nicht wert, dass damit das Schicksal des Landes riskiert wird. Eine Schönwettergemeinschaft muss nur über die gerechte Verteilung von Vorteilen wachen. Die Krisen-EU aber wird nun existenziell herausgefordert. Wer einen Wert in dieser Union sieht, muss sie jetzt mit aller Kraft verteidigen. Europas Eiszeit hat gerade erst begonnen.