EU-Gipfel:Brexit-Verhandler gehen entspannt ins Ungewisse

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Die Britin Theresa May trat diesmal zumindest deutlich freundlicher auf als beim letzten Treffen, hieß es nach dem Brexit-Dinner. (Foto: Yves Herman/Reuters)
  • Der EU-Gipfel in Brüssel bringt keine Fortschritte in der Brexit-Frage, dennoch ist die Stimmung besser als nach dem letzten Treffen in Salzburg.
  • Beide Seiten zeigen sich kompromissbereit, vor allem in Sachen Fristen.
  • Dennoch bleibt die Grenzfrage zu Irland ein Problem, dessen Lösung sich noch nicht abzeichnet.

Von Matthias Kolb, Brüssel

D ie lange erwartete "Stunde der Wahrheit" ist ausgeblieben. Schon weit vor Mitternacht hatten die 27 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am Mittwoch ihren Brexit-Gipfel in Brüssel beendet und Chefunterhändler Michel Barnier damit beauftragt, die Gespräche mit den Briten fortzuführen. Allseits wurden die Fortschritte zwar gelobt, aber sie reichten nicht aus, um den für Mitte November avisierten EU-Sondergipfel zum Brexit anzusetzen. Doch dies löste 162 Tage vor dem EU-Austritt Großbritanniens keine Panik aus. "Wo ein Wille ist, sollte auch ein Weg sein", sagte Kanzlerin Angela Merkel am Donnerstag. Nach einer Empfehlung Barniers würden alle bereit sein, zu einem Sondergipfel anzureisen. Einladen würde EU-Ratspräsident Donald Tusk.

Dieser betonte, dass man einem Deal "näher" gekommen sei. Auffällig ist, dass die britische Premierministerin Theresa May keine Kritik an der EU äußerte. Was nach ihrer "Demütigung" (zumindest aus britischer Sicht) beim jüngsten Treffen in Salzburg ein Fortschritt ist. Die fehlende Dramatik des Brexit-Gipfels verdeutlicht schon die Tatsache, dass Merkel Zeit fand, anschließend mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und den Regierungschefs aus Luxemburg und Belgien in einer Kneipe ein Bier zu trinken. Zuvor hatte May den 27 Staats- und Regierungschefs ihre Perspektive präsentiert und dafür nur 15 statt der geplanten 30 Minuten gebraucht. Teilnehmer lobten Mays Auftreten, das "freundlicher und entspannter" gewesen sei und klar erkennen ließ, dass sie einen geordneten Brexit bevorzugt. Aber substanzielle Vorschläge hatte sie nicht dabei.

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Rätselraten herrscht weiter darüber, wie und vor allem wann May ein Brexit-Abkommen zu Hause in London durchsetzen kann. Bei ihrem zweistündigen Arbeitsdinner mit gebratenen Pilzen, Steinbutt-Filet und dreierlei Sorbet sprachen die Chefs der EU-27 ausführlich über Mays Schwierigkeiten, einen Deal durchs britische Parlament zu kriegen. Für keinen Vorschlag gibt es in London eine klare Mehrheit, das Szenario von Neuwahlen kann niemand ausschließen. Deswegen sei es, wie in mehreren Wortmeldungen betont wurde, dringend geboten, dass EU-Kommission und Mitgliedstaaten sich intensiver darauf vorbereiten, dass es eine Scheidung ohne Abkommen gibt. Denn in der entscheidenden Frage der irisch-nordirischen Grenze, die Grundlage für alle weiteren Kompromisse ist, bewegt sich May noch nicht.

Die nordirische DUP sitzt May im Nacken, sie lehnt Sonderregeln für die Region ab

Dabei war auf Ebene der Beamten am Wochenende eine Lösung im Raum gestanden, die das EU-Mitglied Irland davor bewahren würde, im Falle eines "harten Brexit" vom 30. März 2019 an das zu Großbritannien gehörende Nordirland wie einen Drittstaat zu behandeln und Grenzkontrollen einzuführen. Dies könnte den fragilen Frieden auf der Insel gefährden, was alle Seiten verhindern wollen. Dem Expertenvorschlag zufolge wäre Großbritannien nach dem Austritt in einer Zollunion mit der EU verblieben, während Nordirland zusätzlich dem Binnenmarkt angehören sollte. In dieser Auffanglösung, dem sogenannten Backstop, würde sich für Nordirland nichts ändern, alle wesentlichen EU-Regeln inklusive der Freizügigkeit von EU-Bürgern blieben bestehen. Die Briten dürften währenddessen als Mitglied einer Zollunion allerdings nicht mit Drittstaaten über Freihandelsabkommen verhandeln.

Doch worauf sich Beamte einigen können, ist politisch nicht immer durchsetzbar - zumindest nicht zu jedem Zeitpunkt. Die nordirische DUP, die im Unterhaus die Mehrheit für Mays Regierung sichert, fordert strikt ein Enddatum für den Backstop. Dies ist aber für Dublin inakzeptabel. Dass May im Gespräch mit Irlands Premier Leo Varadkar Verständnis signalisierte, ist positiv - aber eine tragfähige Lösung liegt trotzdem nicht auf dem Tisch.

Viel spricht dafür, dass May versucht, eine Einigung erst möglichst spät zu erzielen. Je früher ein Deal präsentiert wird, desto mehr Zeit haben Brexiteers wie Jacob Rees-Mogg und David Davis, diesen zu torpedieren. Wenn May erst beim regulären EU-Gipfel am 13. und 14. Dezember Farbe bekennt, könnte sie kurz vor Weihnachten mit mehr Verve für einen Deal werben - sowohl die Angst vor dem Chaos eines "harten Brexit" als auch die Furcht vor Neuwahlen könnte einige Tories zum Einlenken bewegen. Derzeit aber gilt: Solange sich May in Sachen Backstop nicht festlegt, werden Fortschritte auf anderen Feldern blockiert.

Selbst wenn erst im Dezember ein Abkommen steht, bliebe aus Sicht der EU genug Zeit

Denn ohne ein Abkommen sind alle anderen Überlegungen hinfällig, auch die zu einer Übergangsphase, in der in Großbritannien weiter EU-Regeln gelten würden. May erklärte sich in Brüssel bereit, diese bisher auf 21 Monate begrenzte Phase, die Ende März 2019 einsetzen würde, "um einige Monate" zu verlängern, wenn so der Stillstand durchbrochen werden könne. Eine Ausweitung bis ins Jahr 2021 würde Unternehmen und Bürgern Planungssicherheit geben und eine andere Herausforderung erleichtern: Nach dem Brexit müsste sofort über ein Freihandelsabkommen zwischen London und Brüssel verhandelt werden. Zuständig ist hierfür die EU-Kommission, die allerdings nach der Europawahl im Mai 2019 erst von den Staats- und Regierungschefs neu gebildet und vom Europäischen Parlament bestätigt werden muss.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker unterstützte den Vorschlag: "Ich glaube, es gibt uns etwas Spielraum, um die künftigen Beziehungen in möglichst guter Weise zu regeln."

Sollte es angesichts der britischen Taktiererei nun so kommen, dass es ein Abkommen erst im Dezember steht, bliebe zumindest aus Sicht der EU noch genug Zeit bis zum Brexit-Stichtag 29. März 2019. Denn nach einem "Ja" des Unterhauses in London müsste nur noch die Mehrheit der EU-Abgeordneten zustimmen - und anders als etwa beim Ceta-Freihandelsabkommen mit Kanada nicht die nationalen Parlamente. Auf großes Entgegenkommen kann Theresa May dennoch nicht hoffen: Antonio Tajani, der Präsident des Europäischen Parlaments, machte am Mittwoch unmissverständlich klar, dass eine Klärung der irischen Frage für die Abgeordneten essenziell ist. Und dann folgte jener Satz, der bei diesem Gipfel wohl am häufigsten zu hören war: "Wir haben volles Vertrauen in Michel Barnier."

© SZ vom 19.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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