Krieg in der Ukraine:Aus Verzweiflung in die Waffenruhe

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Die ukrainische Armee kann den Krieg nicht gewinnen. Jetzt soll es eine Waffenruhe und einen Gefangenenaustausch geben. Wem nutzt das? Warum sind die Separatisten so stark? Und was machen die russischen Soldaten da?

Von Sebastian Gierke

Seit vier Monaten herrscht Krieg in der Ostukraine. Im April nahmen prorussische Separatisten handstreichartig große Teile des Donbass ein, die Kiewer Armee konnte sie kurzzeitig zurückschlagen, doch nun gewinnen die Aufständischen wieder die Oberhand. Der russische Präsident Wladimir Putin spricht bereits von "Neurussland".

Jetzt haben Unterhändler der Kiewer Regierung und die prorussischen Separatisten eine Waffenruhe für das umkämpfte Gebiet vereinbart. Doch noch sind viele Punkte offen. Antworten auf wichtige Fragen zum Krieg in der Ukraine:

Was bedeutet die vereinbarte Waffenruhe?

Die Feuerpause tritt am Freitagabend in Kraft. Es handelt sich um die erste von beiden Seiten vereinbarte Waffenruhe. Sie soll von 18 Uhr Ortszeit (17 Uhr MESZ) an gelten. Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko hat die Feuerpause für die Regierungstruppen angeordnet. Das hatte er für den Fall einer Einigung in Minsk bereits angekündigt. Experten gehen dennoch davon aus, dass angesichts komplizierter Befehlsketten auf beiden Seiten des Konflikts eine Umsetzung der Waffenruhe nicht einfach wird. Vereinbart wurde in Minsk auch ein Austausch aller Gefangenen. Ein weiterer Bestandteil des zwischen Kiew und den prorussischen Rebellen erzielten Abkommens sollen humanitäre Hilfslieferungen für die Ostukraine sein.

Die ukrainische Führung hatte zuvor lange Zeit Verhandlungen mit den von Russland unterstützten Separatisten abgelehnt, willigte nach einer Reihe von militärischen Niederlagen schließlich doch ein. Kontrolliert werden könnte die Waffenruhe durch OSZE-Beobachter. Dies hatte Putin vorgeschlagen. Gespräche über den künftigen Status des Konfliktgebiets Donbass soll es nach Darstellung von Verhandlungsteilnehmern erst zu einem späteren Zeitpunkt geben.

Wie ist die militärische Lage in der Ostukraine?

Mitte August schien ein Sieg der ukrainischen Armee gegen die Separatisen in greifbarer Nähe. Den Regierungstruppen war es gelungen, die Versorgungswege der Separatisten in die Rebellenhochburgen Donezk und Luhansk zu unterbrechen. Doch die Situation hat sich in den vergangenen Tagen verändert. Die Separatisten sind auf dem Vormarsch, wie diese Karten der New York Times veranschaulichen.

Bei Nowoasowsk, nahe der Stadt Mariupol am Asowschen Meer, eröffneten die Separatisten vor wenigen Tagen eine dritte Front. Die strategisch wichtige Stadt liegt etwa 50 Kilometer von der Staatsgrenze und 100 Kilometer von Donezk entfernt. Kurz vor der Vereinbarung der Waffenruhe kam es Berichten der Nachrichtenagenturen AP und Reuters zufolge in der Umgebung von Mariupol zu heftigen Gefechten. Der Kommandeur einer ukrainischen Miliz sagte Reuters, seine Truppe sei die ganze Nacht von den Aufständischen beschossen worden. "Sie stehen uns mit Panzern und Artillerie gegenüber".

Als Grund für die plötzliche Stärke der Separatisten nennen viele Beobachter russische Unterstützung. Ukrainische Soldaten berichten, dass sie nicht mehr Rebellen, sondern der regulären russischen Armee gegenüberstehen. (Zum Beispiel in der britischen Zeitung The Guardian.)

Welche Beweise gibt es für russische Truppen im Land?

Moskau hat bislang alle Vorwürfe dementiert, Soldaten zur Unterstützung der Separatisten in die Ukraine geschickt zu haben. Allerdings waren erst in der vergangenen Woche zehn russische Fallschirmjäger auf ukrainischem Territorium gefangen genommen worden. Aus dem Kreml hieß es dann, sie wären "zufällig" auf ukrainisches Gebiet gelangt. Dennoch spricht vieles dafür, dass sehr wohl gezielt eine große Anzahl russischer Soldaten in der Ostukraine kämpft.

  • Augenzeugenberichte lassen keinen Zweifel daran zu, dass russische Waffen und Soldaten in der Ostukraine sind. SZ-Korrespondent Florian Hassel berichtete bereits vor einem Monat darüber, wie kampferprobte Kaukasier die Separatisten unterstützen. Außerdem würden "aktive und ehemalige Kämpfer von Einheiten des russischen Innenministeriums oder des Generalstabes für Moskau einen Stellvertreterkrieg fechten. "Tschetschenen, aber auch Söldner aus den Nachbarvölkern wie Osseten oder Dagestaner mit ihrer Kampferfahrung, auch im Ausland, sind für den Kreml ideal für den mittlerweile kaum noch verdeckten Einsatz in der Ukraine", schreibt Hassel, der im Osten der Ukraine für die SZ unterwegs war.
  • Die Nato spricht von mindestens 1000 russischen Soldaten. Inzwischen haben auch die Separatisten offen zugegeben, dass russische Soldaten ihnen helfen. Von "etwa 3000 bis 4000" sprach ihr Anführer. Dabei handele es sich allerdings ausschließlich um "Freiwillige". Das Komitee russischer Soldatenmütter spricht von bis zu 15 000 russischen Soldaten, die in die Ostukraine geschickt worden seien - und die sich sicher nicht alle freiwillig im Nachbarland aufhalten. Nach Angaben der ukrainischen Armee sind bisher etwa 2000 russische Soldaten bei den Kämpfen ums Leben gekommen. Ob solche Zahlen zuverlässig sind, ist allerdings nicht zu überprüfen.
  • An der Grenze zur Ukraine soll Moskau zudem bis zu 40 000 Soldaten zusammengezogen haben. Die Nato hat dafür Satellitenbilder der Firma Digital Globe als Beweise präsentiert, obwohl sie intern über deutlich höherwertige Aufnahmen verfügen dürfte. (Was die Bilder zeigen wird in diesem Artikel beschieben.) Die Beweiskraft solcher Bilder ist unter Fachleuten allerdings umstritten.

Warum ist die Lage der ukrainischen Armee so schlecht?

Die ukrainischen Armee führt einen aussichtslosen Kampf. Ihr Zustand galt bereits vor Beginn der Kämpfe als desolat, sie gilt als unterfinanziert, schlecht ausgebildet und ausgerüstet. Nach den Niederlagen der vergangenen Tage sind die Soldaten demoralisiert. Auch die freiwilligen Kämpfer stehen auf verlorenem Posten ( wie diese Reportage aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zeigt). Die Bataillone aus Freiwilligen, formal dem Innenministerium unterstellt, werden meist von Oligarchen und Parlamentsangehörigen finanziert. Der Kampf gegen russische Soldaten und russische Waffen ist für die Ukraine ohne Unterstützung von außen kaum noch zu gewinnen.

Wie reagiert die Nato?

Die Ukraine ist kein Mitglied der Nato, weswegen das Militärbündnis nur in einem bestimmten Rahmen handeln kann. Die Nato hat seit dem Frühjahr ihre Präsenz in den östlichen Mitgliedstaaten verstärkt - und setzt auf das Prinzip Abschreckung. Auf dem Nato-Gipfel in Wales verabschiedeten die Staats- und Regierungschefs der 28 Alliierten einen "Aktionsplan Osteuropa". Es geht dabei vor allem um eine erhöhte Präsenz des Bündnisses in der Region und den Aufbau einer neuen, schnell einsetzbaren Kriseneingreiftruppe, der sogenannten "Speerspitze" aus vermutlich 3000 bis 5000 Soldaten. Diese soll innerhalb von zwei bis drei Tagen kampfbereit sein. Die "Speerspitze" soll abwechselnd von mehreren Verbündeten gestellt werden. Damit will das Bündnis an den Regeln der Gründungsakte des Nato-Russlands-Rates von Mai 1997 festhalten. Der Vertrag verbietet der Allianz, dauerhaft Kampftruppen in Ost- und Mitteleuropa zu stationieren.

Die Ukraine soll Hilfe in den Bereichen Logistik, Kommando- und Kommunikationsstrukturen sowie Cyber-Abwehr erhalten. Zudem will die Nato die Ukraine bei der Versorgung verwundeter Soldaten unterstützen sowie bei der Reform seiner Streitkräfte beraten und ihren "strategischen Austausch" mit Kiew verstärken.

Was macht die EU?

Die Europäische Union will neue Sanktionen gegen Russland beschließen. Und zwar selbst dann, wenn es zu einer Annährung der Konfliktparteien kommt. "Es wäre vernünftig, unseren Plan für verschärfte Sanktionen weiter zu verfolgen", sagte der britische Außenminister Philip Hammond am Rande des Nato-Gipfels. Klar ist bereits, dass die neuen Sanktionen die gleichen Bereiche treffen sollen wie bisherige Maßnahmen. Dazu gehören eine Erschwerung des Zugangs zu den EU-Finanzmärkten sowie ein Verbot der Lieferung bestimmter Rüstungsgüter, auch militärisch nutzbarer Produkte und Technologien zur Ölförderung. Außerdem könnte die EU etwa zwanzig weitere Personen mit Einreisesperren und Kontensperren belegen. Nachdem die Botschafter sich verständigt haben, muss das Paket aber noch durch die Hauptstädte bestätigt werden.

Wie ist die Stimmung in Russland?

Eine überwältigende Mehrheit der Russen steht hinter dem Kurs des Kreml. Von einer "trunkenen Verbundenheit" von Volk und Herrscher schreibt SZ-Autor Tim Neshitov. Auf die Wahrheit komme es nicht an - solange es gegen den Westen, gegen die EU und die USA gehe. Für den russischen Publizisten und Politologen Boris Wischnewskij beruht die Beliebheit Putins "im Wesentlichen auf Fernsehpropaganda". Doch auch in Russland sickern immer mehr Nachrichten über junge Soldaten durch, die im Kampf getötet wurden oder als Krüppel heimkehren. Zeugenaussagen und die Berichte von den Komitees russischer Soldatenmütter häufen sich. Die meisten Russen scheinen den Konflikt jedoch auszublenden. Und wer an der offiziellen Lesart öffentlich Zweifel äußert, muss mit Repressionen rechnen.

Vor allem im Netz wird über vermisste oder tote russische Soldaten berichtet. Zum Beispiel in der jüngst gegründeten Facebook-Gruppe "Cargo-200". (Die militärische Bezeichnung für die Särge, in denen getötete Soldaten in die Heimat gebracht werden). Das Portal LostIvan.ru geht ähnlich vor.

Dem unabhängigen Lewada-Institut zufolge sind zwei Drittel der Russen nicht der Meinung, dass sich das Land in einem militärischen Konflikt mit der Ukraine befinden. Dem Institut zufolge sinkt allerdings die Unterstützung der Russen zum Vorgehen in der Ukraine: Während im März wegen der Annexion der Krim die Euphorie noch groß war und 74 Prozent der Befragten hinter Putins Kurs standen, waren es im Juli nur noch 41 Prozent.

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Mit Material von dpa und AFD.

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