Putin unter Druck:Unterschätzte Macht des knurrenden Magens

Die Beliebtheit des russischen Präsidenten stützt sich auf TV-Propaganda. Doch sobald die gar nicht so wohlhabende Mehrheit begreift, dass man vom Mitfiebern nicht satt wird, dass man den Kühlschrank nicht an den Fernseher anschließen kann - dann wird Putin in den Umfragen abstürzen.

Gastbeitrag von Boris Wischnewskij

Wenn Mickey Rourke sich im Gum, dem Luxus-Kaufhaus gegenüber vom Kreml, ein Designer-T-Shirt mit Putin-Konterfei kauft (Putin trägt da eine lila Militärmütze und scheint aus einem Blumenkranz herauszuwachsen), dann glaubt der rebellische Hollywood-Star offenbar, er unterstütze einen Underdog, einen einsamen, fairen Kämpfer, der von rabiaten Feinden umzingelt ist, von der Nato, von den bad guys.

Einige Russen, die es sich leisten konnten, taten es Mickey Rourke nach und standen am Montag stundenlang vor dem Gum Schlange, um Putin-Shirts zu erwerben. Putin in Kaki ( Aufschrift: "Der höflichste aller Menschen"), mit Sonnenbrille, im Sattel ("Uns holt keiner ein"), Stückpreis: 25 Euro, manche kauften ganze Kisten.

Mickey Rourke

Kein Russe, aber an Putins Seite: Der Hollywood-Schauspieler Mickey Rourke am 11. August in Moskau.

(Foto: dpa)

Mitfiebern kostet ja nichts

Nun laufen also einige wohlhabende Russen in diesen T-Shirts herum. Bereits im Juni gab es eine ähnliche Aktion: Wir unterstützen Wladimir Putin, indem wir sein Gesicht auf der Brust tragen; der Erlös kommt einem Baby zugute, das aus dem ostukrainischen Slawjansk gerettet werden konnte - einer Hochburg der Rebellen, die seit Monaten von der ukrainischen Armee belagert und beschossen wird.

Die wenigsten Russen können sich ein T-Shirt für 25 Euro leisten, aber die meisten unterstützen in diesen Tagen Putin. Mitfiebern kostet ja nichts. Noch nicht.

Während einige Russen kistenweise Designer-T-Shirts kaufen, fegen andere Lebensmittelregale leer. Sie legen Vorräte an. Ich vermute: Sobald der Magen richtig knurrt, sobald die (gar nicht so wohlhabende) Mehrheit begreift, dass man vom Mitfiebern nicht satt wird, dass man den Kühlschrank nicht an den Fernseher anschließen kann, in dem so viele Lügen ausgekippt werden wie seit zwei Generationen nicht mehr - dann wird Putin in den Umfragen abstürzen.

Die Anatomie seiner Beliebtheit ist weder sonderlich komplex, noch ist sie widersprüchlich. Die Unterstützung der Massen (das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum hat nach der jüngsten Sanktionsrunde 87 Prozent Zustimmung ermittelt) beruht im Wesentlichen auf Fernsehpropaganda.

Drei Szenarien

Das Problem für Wladimir Putin ist: Seit der Tragödie der malaysischen Boeing befindet sich der Kremlchef in einer beengten Situation, aus der er sich nicht mehr ohne bleibende Schäden für seine Popularität herauswinden kann - egal, wie der Krieg um die Ukraine verläuft.

Ich sehe drei Szenarien.

Die Zurück-Variante: Der Kreml beendet seine Aggression, Russland schickt über die Grenze keine bewaffneten Leute und keine Waffen mehr. Das Fernsehen in Moskau hört auf, die Separatisten zu verherrlichen.

Zweitens: die Vorwärts-Variante. Der Kreml hört nicht nur nicht auf mit der Aggression, sondern treibt sie voran, bis zum offenen Einmarsch unter dem Deckmäntelchen einer Friedensmission. Die entsprechende Terminologie wurde bereits 2008 herausgearbeitet, während des peinlichen Krieges mit Georgien: "Erzwingung des Friedens", "Schutz russischer Bürger". Es wäre ein Leichtes, den Menschen in Donezk und Lugansk russische Pässe auszustellen. Außerdem gibt es dort bereits russische Staatsbürger, vor allem unter den Freischärlern.

Dritte Möglichkeit: Alles bleibt, wie es ist, also im Zustand eines unerklärten Krieges. Der Kreml versucht, den Separatisten den Status gleichberechtigter Verhandlungspartner zu verleihen und friert den Konflikt ein. Im Osten der Ukraine entsteht ein Abchasien-ähnliches Gebilde.

Rolle rückwärts - eine unerhörte Beleidigung für den Präsidenten

Nun die Folgen.

Eine Rolle rückwärts ist das einzige Szenario, bei dem der Westen bereit wäre, die Sanktionen gegen Russland zu mildern oder gar aufzuheben. Allerdings betonen sowohl Putins Anhänger wie seine Gegner, dass dies eine unerhörte Beleidigung für den Präsidenten wäre. Denn Putin gebe ja nie nach. Ein Verzicht auf die Chimäre "Neurussland", für die Putin so laut getrommelt hat, könnte seinen politischen Tod bedeuten. Ich hoffe trotzdem, dass dieses Szenario noch möglich ist. Diesmal könnte Putin ausnahmsweise nachgeben, und sei es, weil ihm klar sein dürfte, dass der Westen nicht nachgeben wird, anders als 2008 in Georgien.

Kein Schaden an Putins Ranking

Ein Vorwärts! im Donbass würde für Russland die wirtschaftliche Katastrophe bedeuten. Eine endgültige, dauerhafte Isolation wird dazu führen, dass das Lebensniveau in Russland und damit Putins Beliebtheit sinken. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin dies nicht erkennt. Am Ende könnte für ihn ein Prozess in Den Haag stehen.

Am wahrscheinlichsten ist in meinen Augen das Szenario "eingefrorener Konflikt". Sanktionen werden dann aber auf Dauer einen gigantischen Schaden verursachen, nicht nur in der russischen Wirtschaft, sondern bei Putins engen und nicht so engen Freunden.

Noch scheinen die Sanktionen und Gegensanktionen Putins Rating nicht zu schaden. Noch sind nicht alle westlichen Delikatessen aus den Regalen verschwunden. Aber es geht eh nicht um Delikatessen, von denen sich die Designer-T-Shirts-tragende Oberschicht ernährt. Es geht um Käse, Rindfleisch, Schweinefleisch, Oliven, Wurst, Milch, Brot.

Ein Teil davon wird von einheimischen Produkten ersetzt, ein Teil wird aus anderen, sanktionsneutralen Ländern eingeführt werden. Nach Wirtschaftsgesetzen werden die neuen Produkte, wie immer bei Einschränkung der Konkurrenz, entweder schlechter oder teurer sein, ich fürchte beides. Viele "russische" Milchprodukte in und um Moskau werden aus importiertem Milchpulver hergestellt. Ein Laib "russischen" Brotes enthält meistens französische Hefe.

Kann Propaganda noch effektiver sein?

Ich vermute, dass unsere Fernsehleute nun die Propagandamaschinerie noch stärker ankurbeln müssen. 94 Prozent der russischen Bevölkerung informieren sich aus dem Fernsehen. Das Lewada-Zentrum hat ermittelt, dass 74 Prozent der Zuschauer die Berichterstattung der Staatssender über den Krieg in der Ukraine für objektiv halten.

Als die Boeing abgeschossen wurde, machte das Lewada-Zentrum eine Umfrage in sechs Großstädten: Moskau, Sankt Petersburg, Nischnij Nowgorod, Jekaterinburg, Rostow am Don und Nowosibirsk. Wer trägt die Verantwortung für die Katastrophe? lautete die Frage. Die Hälfte sagte: die Regierung in Kiew. 45 Prozent sagten: die ukrainische Armee. Kann Propaganda noch effektiver sein? Solche Ergebnisse hätte man nicht mal unter Nikita Chruschtschow ermittelt, der 1954 die Krim an die Ukraine schenkte.

Als Russland nun dabei war, sich die Krim zurückzuholen, reagierte der Westen schlapp, man versuchte, Putin zu beschwichtigen. In diesem Frühling fühlten sich manche russische Oppositionelle an 1938 erinnert, an den sogenannten Anschluss von Sudetenland und Österreich, an das Münchner Abkommen.

Churchill schrieb 1938 an Chamberlain nach dessen Rückkehr aus München: "Sie hatten die Wahl zwischen Krieg und Schande. Sie haben sich für die Schande entschieden und werden den Krieg bekommen."

An diesen Satz muss ich in diesen Tagen öfter denken.

Der Publizist und Politologe Boris Wischnewskij ist seit 2011 Abgeordneter des Petersburger Stadtparlaments. Aus dem Russischen von Tim Neshitov.

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