Der Fall, der Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) so verärgerte, spielte sich auf einem Flughafen seines Landes ab. Bereits zum zweiten Mal versuchten Polizeibeamte eine kurdische Familie in ein Flugzeug zu bringen, das sie aus Deutschland fortschaffen sollte. Beim ersten Mal war der Versuch der Abschiebung gescheitert, weil sich die Flüchtlinge so sehr wehrten. Als die Kurden zum zweiten Mal "mit erheblichem personellem Aufwand" zum Flugzeug transportiert wurden, so berichteten Ermittler später, sei "in letzter Minute" ein Bescheid aus Bremen gekommen, ausgestellt von der dortigen Außenstelle des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf): Die Familie dürfe nicht abgeschoben werden, das verstoße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Als Pistorius im September 2016 von dem Vorfall erfuhr, diktierte er einen geharnischten Brief, Adressat: Frank-Jürgen Weise, damals noch Präsident des Bundesamtes. Die Verfahrensweise der Außenstelle in Bremen sei nicht im Ansatz nachvollziehbar, schimpfte der Minister und machte den Chef der Bundesbehörde darauf aufmerksam, dass ein Rechtsanwalt aus Hildesheim, der für die kurdische Familie tätig war, bereits in ähnlicher Weise via Bremer Bamf-Außenstelle eine Abschiebung verhindert hatte.
Der Brief hatte Folgen. Die Innenrevision des Bamf wurde tätig und erstattete Strafanzeige. Am Mittwoch und Donnerstag dieser Woche durchsuchten Ermittler im Auftrag der Zentralen Antikorruptionsstelle Bremen acht Privatwohnungen und Anwaltskanzleien in Bremen, Brake, Hildesheim, Oldenburg und Bad Zwischenahn. Ziele der Ermittlungen: die inzwischen suspendierte Leiterin der Bamf-Außenstelle in Bremen, drei Rechtsanwälte, unter ihnen der ehemalige Lebensgefährte der Amtsleiterin, und ein vereidigter Dolmetscher. Bei einem der Rechtsanwälte fanden die Beamten eine scharfe Schusswaffe samt zugehöriger Munition.
Die Beschuldigten sollen gemeinsam dafür gesorgt haben, dass in etwa 2000 Fällen Flüchtlingen, die in Deutschland Asyl beantragt hatten, ein Schutzstatus gewährt wurde - und das, obwohl es formelle und materielle Verstöße gegen die Verfahrensregeln gegeben haben soll. Es soll überwiegend um Schutzsuchende gegangen sein, die Kurdisch sprachen und angaben, jesidischen Glaubens zu sein. Menschen aus der religiösen Minderheit der Jesiden, die vor allem im Nordirak und in Nordsyrien ihre Heimat haben, waren nach dem Vormarsch der Terrororganisation Islamischer Staat in dieser Region besonders brutaler Verfolgung durch die Islamisten ausgesetzt. Viele wurden vergewaltigt, versklavt oder massakriert. Jesiden, die sich aus den Kriegsgebieten nach Deutschland retten konnten, erkannte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Schutzstatus zu. Die Anerkennungsquoten lagen zeitweilig bei etwa 90 Prozent.
Allerdings fielen diese Quoten in der Bamf-Außenstelle Bremen für Flüchtlinge aus dem Irak noch einmal höher aus als anderswo in Deutschland. Merkwürdig fanden die Ermittler auch, dass die Außenstelle solche Fälle offenbar geradezu an sich zog. Nur für 98 der etwa 2000 von den Korruptionsermittlern ins Auge gefassten Fälle wäre das Bremer Amt tatsächlich örtlich zuständig gewesen. Alle anderen Anträge soll den Ermittlungen zufolge die damalige Außenstellenleiterin aus anderen Bundesländern, vor allem aus Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen, herangezogen und die Vorgänge später wieder dorthin zurückverwiesen haben - aber erst, nachdem die Antragsteller einen positiven Bescheid bekommen hatten.
Busse angemietet, um Antragsteller nach Bremen zu fahren
Der Publikumsverkehr in den Bremer Bamf-Räumen muss demnach recht rege gewesen sein. Einer der beschuldigten Rechtsanwälte soll sogar Busse angemietet haben, um Antragsteller nach Bremen zu fahren, wo ihre Anträge nach einer vorab mitgeteilten Liste bevorzugt bearbeitet worden sein sollen. Ausweispapiere seien nicht überprüft worden, so die Vorwürfe, eine erkennungsdienstliche Behandlung sei oft ganz unterblieben. Dadurch konnte nicht festgestellt werden, ob die Flüchtlinge bereits in einem anderen EU-Land ihre Fingerabdrücke abgegeben hatten - und für einen Asylantrag eigentlich dorthin hätten zurückgeschickt werden müssen. Gab es solche Fingerabdrücke, sollen die Fallakten so lange liegen gelassen worden sein, bis die Fristen für eine Überstellung in ein anderes Land abgelaufen waren.
Allerdings haben die Ermittler noch keine Hinweise darauf, ob dabei Geld geflossen ist. Nur von Essenseinladungen in Restaurants ist bislang die Rede. In der überschaubaren Asylszene Bremens wird von der ehemaligen Amtsleiterin mit Respekt gesprochen, als anfällig für Gefälligkeiten gilt sie dort nicht. Sie könnte sich aber die Lage der Jesiden sehr zu Herzen genommen haben. Könnte das ein Motiv sein, die harten Regeln des deutschen Asylrechts zu brechen? Das Bundesinnenministerium will die Anerkennungsbescheide nun überprüfen lassen - und sie gegebenenfalls zurücknehmen.