Über Alternativen wird viel geredet zurzeit. Es geht um neue Politikansätze und andere Arten des Zusammenlebens. Weil das bestehende Wirtschaftssystem auf seinen Untergang zusteuere, fordert der Politologe Markus Wissen grundlegende Reformen. Er lehrt und forscht an der Hochschule für Wirtschaft und Recht (HWR) in Berlin zu sozial-ökologischen Transformationsprozessen und hat mit Ulrich Brand das Buch "Imperiale Lebensweise" (Oekom, 14,95 Euro) veröffentlicht. Sie stützen ihr Argument auf jenen Gegenstand, der gerade die Schlagzeilen bestimmt: das Auto. Das Interview gibt der 51-jährige von Dänemark aus, wo er gerade Urlaub macht. Angereist ist er mit dem Auto - geliehen von den Schwiegereltern.
SZ: Herr Wissen, Sie analysieren in Ihrem Buch "die Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus" und sprechen von einer "imperialen Lebensweise". Was ist damit gemeint?
Markus Wissen: Wir beschreiben Konsum- und Produktionsmuster, die vor allem in den Industriestaaten üblich sind und auf der überproportionalen Aneignung von Arbeitskraft und Natur in den Entwicklungsländern beruhen. Sie ermöglichen der Ober- und Mittelschicht ein gutes Leben; in geringerem Maße auch den Arbeitern. Diese Muster sind aber nicht verallgemeinerbar, weil sie auf Ausbeutung beruhen und die Lebensbedingungen von Menschen andernorts untergraben. Unser Konsum geht zu Lasten anderer. Der Begriff "imperiale Lebensweise" weist darauf hin, dass die Herrschaftsförmigkeit, die in den internationalen Beziehungen angelegt ist, in den Alltag eingeht. So wird sie normalisiert und zum Verschwinden gebracht.
Sie verwenden auch den Begriff vom "Food from nowhere". Was ist dieses Essen, das aus dem Nichts zu stammen scheint?
Der Agrarsoziologe Philip McMichael umschreibt so die Art, wie Lebensmittel etwa im Supermarkt präsentiert werden. Das Positive wird betont, das Negative verdunkelt: Die CO₂-Emissionen, die bei Produktion und Transport entstehen, werden auf den Preisschildern nicht ausgewiesen. Auch die Umstände bei der Ernte werden ignoriert: Neben der Natur werden ebenso Menschen ausgebeutet. Auf den Containerschiffen herrschen schreckliche Arbeitsbedingungen.
Bei der Lektüre fühlt man sich oft ertappt: beim eigenen Unwissen oder schlicht beim fehlenden Willen, sich über die Herkunft von Produkten zu informieren.
Das ist zentral. Wir reden bewusst nicht von "imperialistisch", obwohl das für uns weiter eine zentrale Kategorie ist. Mit "imperial" wollen wir zeigen, dass die imperialistische Weltordnung mit ihrer ökonomischen, militärischen und politischen Ungleichheit von Staaten nur funktioniert, weil diese Beziehungen im Alltag verankert sind. Wir denken nicht nach, wenn wir viel Fleisch konsumieren und fragen nicht, was die Herstellung kostet. Wir haben uns an diese Herrschaftsform gewöhnt.
Anders gesagt: Wir können uns diese Ignoranz leisten.
Ich sehe das eher als eine Sache der Alltagspraxis. Wir können nicht permanent beim Einkaufen fragen, welche Ressourcen für unsere Lebensmittel verbraucht wurden. Das funktioniert nicht. Wir profitieren von dieser Lebensweise, die sehr angenehm ist. Zugleich ist sie ein Zwang, sie ist in die gesellschaftlichen Verhältnisse eingelassen, sodass uns nur begrenzte Wahlmöglichkeiten bleiben.
Je nach Alter mag dieser Konsum für Einzelne noch funktionieren, aber auf Kinder und Enkel wartet eine Welt, die immer lebensfeindlicher wird.
Entscheidend ist die Externalisierung. Wir geben die sozialen und ökologischen Kosten an ein "Außen" ab, wir verlagern sie in Zeit und Raum. Für die Zeit ist der Klimawandel das beste Beispiel: Wir im globalen Norden - also in Europa, den USA, Australien und Japan - spüren die Extremwetterereignisse bisher kaum; unsere Kinder und Enkel wird das stärker treffen. Externalisierung im Raum heißt, dass durch unsere Art und Weise des Produzierens und Konsumierens die Umwelt in den Entwicklungsländern zerstört wird. Dort nehmen etwa Dürren oder Überschwemmungen zu.
Ein Kapitel in Ihrem Buch dreht sich um die Automobilität und beschäftigt sich besonders mit den SUVs. Was fasziniert Sie so an diesen Monster-Autos?
Mein Co-Autor Ulrich Brand und ich sind leidenschaftliche Fahrradfahrer. Wir führen also jeden Tag in Berlin und Wien einen Kleinkrieg mit Autos und SUVs. Wir haben uns gefragt: Warum kaufen Menschen Autos, von denen klar ist, dass sie die Umwelt verpesten, andere gefährden und schon durch ihre Bauart die Rücksichtslosigkeit darstellen?
Welche Erklärung haben Sie?
Sport Utility Vehicles sind das ideale Symbol für die imperiale Lebensweise. Man zerstört Natur im Herstellungsprozess der Autos und auch in der Art, wie man sie nutzt, weil sie eben mehr Sprit brauchen. Zugleich empfindet man es als normal und auch als Anpassung an die zunehmenden Unsicherheiten. Das ist zumindest unsere These. Der Boom der Geländewagen findet ja parallel statt zum wachsenden Bewusstsein über Risiken des Klimawandels. Wie passt diese Sensibilität zur Nutzung eines Autos, das dies konterkariert? Viele denken wohl: Mit einem SUV komme ich überall durch, ich trotze Starkregen und kann meine Kinder trotzdem noch sicher zur Schule bringen. Dieses Verhalten ist faszinierend zu beobachten, aber zugleich sehr erschreckend.
Hier deutet sich eine "Eskalation nach oben" an. Die Insassen sind ja nur so lange geschützt, wie die anderen radeln oder einen Kleinwagen nutzen - und nicht, wenn alle plötzlich Geländewagen fahren.
Seit Jahren nimmt die Ungleichheit in Deutschland zu und wir wissen aus Studien, dass die Statuskonkurrenz in ungleichen Gesellschaften besonders stark ausgeprägt ist. Das betrifft die Reichen untereinander: Da wird man mit einem VW-Geländewagen belächelt, wenn alle Porsche Cayenne fahren. Aber natürlich gibt es diese Konkurrenz klassenübergreifend: Die Angestellten rüsten dann auf und kaufen womöglich billigere oder gebrauchte SUVs.
Die Motorleistung der Autos in Deutschland ist von durchschnittlich 95 PS im Jahr 1995 auf 140 PS angestiegen. Das ist nur einer der Widersprüche im Alltag der urbanen Mittelschicht: Man trennt Altpapier, aber auf Flugreisen will niemand verzichten. Wollen sich die Menschen belügen oder können sie nicht anders?
Ich sehe es da eher mit Karl Marx, der in den Feuerbach-Thesen schreibt, das Individuum sei ein "Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse". Wir leben im Kapitalismus und sind also geprägt durch Konkurrenz und Gewinnmaximierung. Das Beispiel der Bio-Lebensmittel, die im Jutebeutel zum SUV getragen werden, ist daher vielleicht gar nicht so widersprüchlich. Es ist eine Form der privaten Nachhaltigkeit: Diese Menschen versorgen sich und ihre Familie mit gesunden Lebensmitteln und schützen sich vor den Gefahren der Automobilität, ohne selbst darauf verzichten zu müssen. Sie sitzen eben in ihrem kleinen Panzer.