Sir Ian Kershaw besitzt gleich zwei Originalausgaben von "Mein Kampf", sie stehen in seiner Bibliothek. Eines enthält eine handschriftliche Widmung: "To Charlie with love from Adolf, 1945". Dies ist freilich keine wissenschaftliche Sensation, etwa des Inhalts, Adolf Hitler habe einen geschätzten Freund namens Charlie besessen und ihn noch im Untergang mit einer signierten Ausgabe des eigenen Werks beglückt. Wahrscheinlich war es so, nimmt Ian Kershaw an, dass ein englischer Soldat das Buch aus einem Regal im besiegten Deutschland als Souvenir geklaut und sich beim Weiterverschenken einen garstigen Scherz erlaubt hat.
Eine selbstbewusste Demokratie hat keinen Grund, eine solche Edition zu scheuen
Kershaw, einer der wichtigsten britischen Historiker und Verfasser einer monumentalen, luziden und sehr gut geschriebenen Hitler-Biografie, war eigens aus Sheffield angereist, um seinen Freunden im Münchner Institut für Zeitgeschichte (IfZ), um im militärischen Bilde zu bleiben, ein wenig Feuerschutz zu geben. Dessen Leiter Andreas Wirsching und Projektleiter Christian Hartmann stellten am gestrigen Freitag im Institut ihr Großprojekt der kritischen Edition von "Mein Kampf" vor. Der Medienandrang auch aus dem Ausland war enorm.
Im Vorfeld hatte es, in Unkenntnis der editorischen Leistung, mancherlei Kritik gegeben, die von selbstverliebtem Eiferertum bis zu bedenkenswerten Einwänden reichte, man dürfe dem Ungeist, der aus diesem Buch spricht, nicht seine Stimme zurückgeben. Seit 1945 war das Buch verboten gewesen, das Hitler 1924 in seiner Gefängniszelle auf der Landsberger Festung niedergeschrieben hatte. Aus rechtlichen Gründen ist der Text seit Ende 2015 "gemeinfrei", er darf also wieder öffentlich zugänglich gemacht werden.
Ist das wirklich nötig? Aber ja, sagte Sir Kershaw mit der ganzen Gelassenheit der langen angelsächsischen Freiheitstradition: "Deutschland ist eine gefestigte Demokratie. Es sollte auch eine selbstbewusste Demokratie sein, die keinerlei Grund hat, eine solche Edition zu scheuen." Er wagte die Prognose, diese werde "mit Sicherheit keinen einzigen unvoreingenommenen Menschen zum Nazi konvertieren". Kershaw selbst hatte mehrfach für eine kritische Neuausgabe votiert.
"Gegenrede zu Hitlers Schrift, diesem Konvolut der Unmenschlichkeit"
Die Räume des Instituts allein, es haust in einem Betonbau der Siebziger von epochaler Scheußlichkeit samt nackten Betonwänden und orangem Teppichboden, hätten wohl schon genügt, um jeden Verdacht vom IfZ zu nehmen, es spiele mit der Edition Nazis, Ewiggestrigen, ja dem Übel selbst in die Hände. Betrachtet man das Buch, kann davon auch wirklich nicht die Rede sein. Es scheint seinen Anspruch zu erfüllen, "so etwas wie eine Gegenrede zu Hitlers Schrift, diesem Konvolut der Unmenschlichkeit" zu sein, so Wirsching.
Hitlers Originaltext ist tatsächlich umgeben, ja "umzingelt", wie der Militärfachmann Hartmann es gern nennt, von Fußnoten; ein großräumiges Layout gibt ihnen Platz. Die IfZ-Historiker haben - unter anderem - Hitlers Quellen untersucht und den ideengeschichtlichen Hintergrund seiner Welt aus Hass und Neid, die Passagen in den Kontext der Zeit gesetzt, sie haben Fehler korrigiert, Widersprüche benannt und zeigen Übereinstimmungen zwischen Hitlers Frühschrift und der Politik des NS-Regimes auf.
Das Original, dieser Entwurf einer rassistischen Mordideologie, ist ja zugleich auch Memoirenwerk, in dem Hitler log, Dinge zurechtbog, sich aus dem ganzen Arsenal der Niedertracht bediente, über welche die völkische Rechte seiner Tage reichlich verfügte. Und er bastelte am eigenen Mythos, nicht selten durch reine Erfindungen, die seine Behauptung, zum Führer und Retter Deutschlands berufen zu sein, untermauern sollten.