Kanada wird 150 Jahre alt:Kanada feiert die Vielfalt

Nationalismus? Nicht mit uns: Das Land begeht seinen 150. Geburtstag - und Premierminister Trudeau verteidigt das weltoffene Kanada.

Von Frank Nienhuysen

In Zeiten des zunehmenden Nationalismus in Europa und den USA wirkt Kanada fast trotzig wie ein Hort aus Toleranz, Offenheit und Zuversicht. Während US-Präsident Donald Trump Mauern hochziehen will und Einreiseverbote vorantreibt, heißt Kanada Zehntausende Flüchtlinge willkommen. Der kanadische Premierminister Justin Trudeau hat die ersten von ihnen persönlich begrüßt.

An diesem Wochenende feiert Kanada seinen 150. Geburtstag. Am 1. Juli 1867, als die kanadische Verfassung in Kraft trat, begann sich das nordamerikanische Land vom britischen Mutterland zu lösen. Ein souveräner Staat wurde geboren. Exakt 20 Minuten und 17 Sekunden (für 2017) dauerte die Pyro-Show am Samstagabend, Prince Charles und Gattin Camilla feierten mit, die Queen ist ja offiziell das kanadische Staatsoberhaupt.

"Wir haben vielleicht verschiedene Hautfarben und Religionen, kommen aus jeder Ecke der Welt", sagte Trudeau in einer Rede anlässlich des Geburtstags. "Aber wir begrüßen die Vielfalt. Wir wissen: In unseren Herzen sind wir alle Kanadier." Die Geschichte des Landes sei aber weit davon entfernt, perfekt zu sein. "Viele von uns feiern Kanadas 150. Geburtstag, aber das gilt nicht für alle. Über Jahrhunderte waren die indigenen Völker Opfer von Unterdrückung", sagte Trudeau.

Der patriotische Pomp hält sich trotz aller Reden in Grenzen. Kanada feiert sich bei Weitem nicht so gern selbst wie der große amerikanische Nachbar im Süden. "Ich bin stolz auf mein Land, weil es ihm an Stolz fehlt", schrieb der kanadische Schriftsteller Stephen Marche in der New York Times. Dabei räumt er ein: Kanada hätte durchaus Grund dazu.

Der Wohlstand im G-7-Staat ist stabil, die Wirtschaft wächst wieder stärker, und seit zwei Jahren hat er einen Regierungschef, der so beliebt ist wie vor ihm lange keiner. Trudeau, 45, hatte es geschafft, für seine Liberalen fast 150 Parlamentssitze hinzuzugewinnen. Er machte 15 Frauen und 15 Männer, darunter ehemalige Flüchtlinge, zu Ministern und begründete dies bei Amtsantritt damit, dass "wir im Jahr 2015 leben". Nach fast zehn Jahren konservativer Regierung in Ottawa sah Trudeau das liberale Erbe seines Vaters Pierre in Gefahr. Nun will er es fortsetzen. "Bei uns gibt es keine kanadische Leitkultur und keinen Mainstream", Kanada sei ein "postnationaler Staat", sagte er. "Unsere Stärke ist schon immer die sprachliche, religiöse und kulturelle Vielfalt gewesen."

Pierre Trudeau war von 1968 bis 1984 fast ununterbrochen Premier. Ihm gelang es, das Land noch souveräner zu machen, als nämlich die lästige Pflicht verschwand, für eine Verfassungsänderung die Zustimmung des britischen Parlaments einzuholen. Trudeau senior prägte die großzügige Einwanderungspolitik, er modernisierte das Gesundheitswesen, entkriminalisierte die Homosexualität, vor allem besänftigte er im Sprachenstreit die abtrünnigen Frankophonen und versöhnte das Land. Jedenfalls zum größten Teil.

Sohn Justin bekam vieles von all dem aus nächster Nähe mit. Auf geschätzte 50 Auslandsreisen nahm der Premier den Spross mit, Justin Trudeau gewöhnte sich daran, Menschen wie Ronald Reagan zu treffen, Helmut Schmidt, Margaret Thatcher, Fidel Castro, und ein Foto an der Seite von Helmut Kohl gibt es auch von ihm. Nun führt er selber das Land, so wie es Richard Nixon einst launig prophezeit hatte, als er mit den Eltern des Knirpses das Weinglas erhob. Trudeaus Problem: Er muss als Premier mit einem US-Präsidenten klarkommen, der sehr viel weniger launig, dafür aber sehr launisch ist.

Vor 150 Jahren hat sich Kanada von den Briten abgenabelt, doch mit den USA bleibt es in untrennbarer Nachbarschaft verbunden. Etwa 70 Prozent seines Handels wickelt Kanada mit den USA ab. Während Trudeau freien Handel propagiert, Liberalität und offene Grenzen, macht Trump das Gegenteil. Das nordamerikanische Freihandelsabkommen Nafta, eine der Lebensversicherungen für Kanadas Wohlstand, würde der US-Präsident am liebsten neu verhandeln.

"Amerika kann sich glücklich schätzen"

Trudeau, der für Kritiker allzu smart, unbedarft und jung daherkommt, will der Trump-Regierung entgegensetzen, was die New York Times als Donut-Strategie bezeichnet: indem er mithilfe von Amerika-Kennern rund um das Weiße Haus einen süßen Ring formt und Washington quasi betört. Der ehemalige konservative Premier Brian Mulroney, Trump seit Langem bekannt, ist einer aus dem Strategieteam, die kanadische Außenministerin Chrystia Freeland, Handelsexpertin und Ex-Journalistin mit USA-Erfahrung, gehört ebenso dazu wie ein Netz von Bürgermeistern und Gouverneuren, die das kanadisch-amerikanische Verhältnis berechenbar halten sollen - Trump zum Trotz.

Und sieh an: "Amerika kann sich glücklich schätzen, einen solchen Nachbarn wie Kanada zu haben", sagte Trump nach einem Treffen in Washington. Im Wahlkampf hatte er über Trudeau noch getwittert, dieser solle "sich schämen, sich Präsident von Kanada zu nennen". Was der natürlich nie tat.

Wie sehr beide Länder einander bedingen, zeigt sich etwa in Emerson, einem Grenzort in der kanadischen Provinz Manitoba mit 650 Einwohnern. Dort hat die Polizei in den ersten Monaten seit Trumps Amtsantritt fast 1200 Migranten aufgegriffen, die zunächst vor Krieg und Elend in die USA geflüchtet waren, und nun vor Trumps Einwanderungskurs nach Kanada. Auch der angekündigte Ausstieg aus dem Klimaabkommen dürfte sich über die Tausende Kilometer lange gemeinsame Grenze hinweg auswirken. Trudeau muss auf all dies Antworten finden. Doch gerade weil selbst viele Amerikaner in ihm einen Trump-Antipoden sehen, projizieren Linke und Liberale Sehnsüchte auf den kanadischen Premier. Das verschafft ihm politisch noch mehr Spielraum, Unabhängigkeit - und Kredit.

"Trudeaus Popularität mag vielleicht beispiellos sein in der kanadischen Geschichte", sagte der Geschichtsprofessor Norman Hillmer, "aber die Erwartungen sind derart gestiegen, dass Enttäuschungen sicher folgen." Den ersten kleinen Skandal hat der Premierminister schon hinter sich. Er wurde dabei ertappt, wie er auf Einladung des Milliardärs Karim Aga Khan auf dessen Bahamas-Insel urlaubte. Umweltschützer warfen ihm vor, dass ausgerechnet Trudeau, gegen den Widerstand auch von Ureinwohnern, dem Bau einer Ölpipeline in Alberta zugestimmt hat.

Die konservative Opposition will natürlich sowieso alles anders machen. Darauf wird sie noch eine Weile warten müssen. Solange in den USA Trump regiert, werden sich die Kanadier wohl von ihm abgrenzen und erst recht auf den offenen, zweisprachigen Trudeau setzen. "Um dieses Land zu führen, musst du in mehreren Sprachen und Kulturen navigieren können", schreibt der Schriftsteller Stephen Marche, "aus unserer einstigen Identitätskrise ist ein großer Vorteil geworden."

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