Als Kevin Kühnert am Samstagnachmittag endlich auf die Bühne kommt, spricht er so schnell, dass einige Sätze im Applaus untergehen. Er hat viel zu sagen, hier auf dem Juso-Bundeskongress in Oberhausen, zum Beispiel zu den eigenen Erfolgen. Jahrelang hätten die Jusos gekämpft, für ein zeitgemäßes Sozialstaatkonzept, für das Bürgergeld. Dass die Regierung vieles davon nun umsetzen könne, "das sind wir gewesen, und wir können so verdammt stolz darauf sein", sagt Kühnert. "Da lohnt es sich, sich den Hintern plattzusitzen an ganzen Wochenenden."
Die Jusos waren mal das Dagegen-Organ der SPD. Als Kühnert noch ihr Vorsitzender war, wetterten sie gegen die große Koalition und gegen Olaf Scholz als Parteichef. Kühnert hatte den Vorteil, dass nicht mal ein Hauch von Establishment an ihm haftete, auch weil er kein bundespolitisches Mandat besaß. Mittlerweile ist der 33-Jährige als Generalsekretär Teil der Parteispitze und außerdem Abgeordneter. Vergangenen Herbst wurde er mit 48 anderen Jusos in den Bundestag gewählt, sie machen fast ein Viertel der SPD-Fraktion aus. Auch Jessica Rosenthal, seit bald zwei Jahren Kühnerts Nachfolgerin als Juso-Vorsitzende, sitzt im Parlament. Wenn man Macht innehat, wettert es sich nicht mehr ganz so leicht.
Newsletter abonnieren:SZ am Sonntag-Newsletter
Unsere besten Texte der Woche in Ihrem Postfach: Lesen Sie den 'SZ am Sonntag'-Newsletter mit den SZ-Plus-Empfehlungen der Redaktion - überraschend, unterhaltsam, tiefgründig. Kostenlos anmelden.
Die Kritik an Kanzler und Parteispitze fällt in Oberhausen dann zunächst auch eher mild aus. Etwa 300 Delegierte haben sich am Wochenende unter dem Motto "Solidarisch. Komme was wolle." im Kongresszentrum versammelt, um über Entlastungen für die Bevölkerung und die Zeitenwende in der Sicherheitspolitik zu diskutieren. Ohne Olaf Scholz, der sich gar nicht erst auf den Weg gemacht hat: Aus terminlichen Gründen, wie ein Juso-Sprecher mitteilt. Dafür ist Co-Parteichefin Saskia Esken gekommen. Sie wird mit langem Applaus begrüßt. Bevor sie für ihre Rede am Freitagabend auf die Bühne steigt, zupft ein Fotograf ihren himmelblauen Blazer zurecht.
Es sei gut, sagt Esken dann, dass man gemeinsam "in die richtige Richtung" marschiere und "nicht mehr in den Schützengräben" liege. Die "Fortyniner", wie Esken die 49 Juso-Abgeordneten nennt, würden einen Kulturwandel in die Partei hineintragen, der "sehr wertvoll" für die eigene Politik sei. Esken erinnert an den "epochalen" Sieg bei der Bundestagswahl, spricht von der Bewältigung der Energiekrise, von leeren Kühlschränken der Bürger. Und umschifft auch nicht die Herausforderungen der Ampelkoalition: "Drei verschiedene Parteien haben sich da zusammengetan. Das ist echt nicht immer einfach."
Probleme, wie gemacht für Sozialdemokraten
Die Probleme, vor denen Deutschland aktuell steht, sind eigentlich wie gemacht für die Sozialdemokraten. Die Inflation ist so hoch wie seit 70 Jahren nicht mehr, vor allem die weniger Wohlhabenden haben Angst vor dem Winter und der nächsten Nebenkostenabrechnung. Fragt man unter den Juso-Delegierten nach, wie sie die Arbeit der Regierung und des Kanzlers bewerten, gleicht das Stimmungsbild einem großen "Ja, aber": Ja, die Modernisierung der Bundeswehr sei wichtig, das 100-Milliarden-Sondervermögen aber falsch. Ja zu Waffenlieferungen an die Ukraine, nein zu den hohen Profiten der Rüstungsindustrie. Und die vielen Entlastungspakete seien zwar richtig, nicht aber das Gießkannenprinzip, nach dem die Gelder verteilt würden.
Die Jusos haben klare Vorstellungen, wie es besser ginge. In einem auf dem Bundeskongress mit großer Mehrheit verabschiedeten Antrag fordert der SPD-Nachwuchs ein höheres Bürgergeld, ein dauerhaftes Neun-Euro-Ticket, eine Abschaffung der Umsatzsteuer auf Lebensmittel und eine weitere Direktzahlung als Ausgleich für die hohen Energiekosten. Um das alles zu finanzieren, brauche es eine Übergewinnsteuer, eine Aussetzung der Schuldenbremse und eine progressive Vermögensabgabe: Wer zwei Millionen Euro besitzt, solle zehn Prozent davon abgeben; wer mehr als 50 Millionen besitzt, sogar die Hälfte.
Das Politische Buch:Das doppelte Missverständnis der SPD
Der Historiker Dietmar Süß analysiert den "seltsamen Sieg" von Olaf Scholz 2021 und attestiert der Sozialdemokratie der Spätmoderne eine "Überlast der Geschichte".
"Solidarische Finanzierung" nennen die Jusos das, und sind damit inhaltlich gar nicht so weit entfernt von ihrer Parteivorsitzenden: Saskia Esken fordert ebenfalls eine "solidarische Vermögensabgabe" und verspricht, sich in der Koalition dafür einzusetzen.
Gestritten wird auf dem Bundeskongress aber auch, zum Beispiel über den Hamburger Hafen. Dort hat die chinesische Staatsrederei Cosco - auf Wunsch von Olaf Scholz - kürzlich die Erlaubnis bekommen, sich in ein Containerterminal einzukaufen. Ein Umstand, den viele Jusos kritisieren: Kritische Infrastruktur gehöre in öffentliche Hand, sagt unter anderem die Vorsitzende Rosenthal.
Kühnerts neue Aufgabe: den Kanzler verteidigen
Auch Kühnert ist der Meinung, dass die Unabhängigkeit in Handelsfragen ausgebaut werden müsse. Eine 65-Millionen-Beteiligung am kleinsten Terminal des Hafens sei jedoch kein Untergang der Volkswirtschaft. Man solle nicht "über jedes Stöckchen rüberspringen, das uns aus dem einen oder anderen andersfarbig geführten Ministerium hingehalten wird", sagt Kühnert. Zu seinem Aufgabenprofil als Generalsekretär gehört es mittlerweile, die Politik des Kanzlers zu verteidigen.
Einer der nachfolgenden Redner fordert von Kühnert, wer als Juso-Vorsitzender von der Vergesellschaftung von BMW spreche, solle als Generalsekretär für diese Vision "auch weiterhin liefern". Ein anderer sagt, seitdem die SPD den Kanzler stelle, seien die öffentlichen Debatten in der Partei viel zu leise geworden. Der Parteispitze stünde man aber "kritisch solidarisch" zur Seite.
Ein brisanter Satz zu China
Richtig zur Sache geht es dann, als der Co-Parteivorsitzende Lars Klingbeil am Sonntag zum Bundeskongress kommt. Auch er geht in seiner Rede auf China ein, das Land müsse "draußen bleiben, wenn es um die Sicherheit, um die Souveränität unseres Kontinents geht", sagt Klingbeil. Bei Menschenrechten dürfe es "kein Schweigen der Sozialdemokratie geben".
In dieser Sache ist er sich mit den Jusos einig. Nicht aber darin, dass Deutschland den Anspruch einer "Führungsmacht" verfolgen solle, wie Klingbeil vor einiger Zeit gefordert hatte. "Pack diesen Begriff in die Tonne", sagt einer der Delegierten. Eine andere fühlt einen "Ampelkater", in gesellschaftlichen Debatten sei man nahezu unsichtbar. "Wo ist denn unsere Gesellschaftsvision?", fragt sie in Richtung Klingbeil - und macht damit klar: Ein bisschen umkrempeln wollen sie die Welt dann doch noch, die Jusos.