Jemen:21 Millionen Hilfsbedürftige

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Von Hilfsorganisationen verteiltes Essen ist in Jemen für den Großteil der Bevölkerung überlebenswichtig. (Foto: Stelp)

Seit 2014 leiden die Menschen unter dem jemenitischen Bürgerkrieg. Nach Huthi-Angriffen auf Handelsschiffe im Roten Meer schlagen die USA und Großbritannien zurück. Was heißt das für die humanitäre Lage im Land?

Von Dunja Ramadan

Gerade noch rechtzeitig schaffte es der Stuttgarter Serkan Eren am Vorabend aus der Hauptstadt Sanaa, die seit 2014 unter Kontrolle der schiitischen Huthi-Miliz steht. Nur Stunden später trafen die Angriffe des amerikanischen und britischen Militärs am vergangenen Freitag Huthi-Ziele in Sanaa. Es sind Reaktionen auf deren anhaltende Attacken auf Handelsschiffe im Roten Meer. "Es war reines Glück, dass ich noch herauskam. Es fühlt sich komisch an, die Mitarbeiter und vor allem die vielen Kinder im Ungewissen zurückzulassen", berichtet der Gründer der Hilfsorganisation Stelp am Telefon.

In Sanaa betreibt Stelp (von STuttgart hELPs) seit 2019 Suppenküchen für rund 2300 Schüler und Schülerinnen. So viele hungernde Menschen habe er noch nie gesehen, sagt Eren. Den meisten Kindern sehe man sofort an, dass sie unterernährt sind. "Bei uns wollen sich so viele Straßenkinder in die Schulen einschreiben, nur um eine warme Mahlzeit am Tag zu bekommen", erzählt der 39-Jährige.

Lehrerinnen betteln um Essen für ihre eigenen Kinder

Es gebe nahezu keine funktionierende Trinkwasserversorgung, er habe mit Kindern gesprochen, die nicht wissen, dass es anderswo fließend Wasser gibt. Er berichtet von Lehrerinnen, die seit Monaten kein Gehalt mehr bekommen, von den Huthi aber zur Arbeit gezwungen werden und ihn in den Suppenküchen anbetteln, dass sie für ihre hungernden Kinder zu Hause etwas mitnehmen dürfen.

Seit Jahren versuchte Serkan Eren, dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für sein Engagement kürzlich das Bundesverdienstkreuz überreicht hat, nach Jemen zu reisen, um sich ein eigenes Bild zu machen. Der ehemalige Lehrer und Fitnesstrainer gründete nach einem schweren Autounfall 2009 die Hilfsorganisation, die seitdem in 14 Ländern aktiv ist.

2021 errichteten sie eine Zeltschule in Dharawan Camp, etwa 50 Kilometer nördlich von Sanaa. Dort leben Binnenflüchtlinge in zusammengeschusterten Hütten. "Sobald es klingelt, rennen die Kinder raus zum Essen. Die Menschen hier fühlen sich von der Welt vergessen", sagt Eren. In den vergangenen zwei Wochen habe er keinen einzigen Ausländer gesehen. Seit Jahren sinkt die internationale Hilfe für Jemen, bei internationalen Geberkonferenzen kommt weniger Geld zusammen als benötigt.

"Die Menschen hier fühlen sich von der Welt vergessen": Serkan Eren (Mitte) in einer von Stelp betriebenen Zeltschule für Flüchtlingskinder. (Foto: Stelp)

Internationale Hilfsorganisationen haben Probleme, in alle Gebiete vorzudringen, oft müssen sie durch mehrere Checkpoints, um südliche Teile des Landes zu erreichen. Auch für Eren war die Reise beschwerlich; in den vergangenen Jahren scheiterte es am Visum, diesmal reiste er über den Oman ein. Ein Fahrer wartete auf ihn, an den Huthi-Checkpoints sei es chaotisch zugegangen, erzählt er. Einmal nahmen ihm Huthi für drei Tage den Pass ab, weil sie einen afghanischen Stempel entdeckt hatten. "Ich dachte mir schon, dass es katastrophal wird, ich war zuvor in Afghanistan und Syrien, auch in der Ukraine. Aber hier betteln die Kinder nicht an der Ampel, sondern hauen vor lauter Hunger auf die Scheibe, weil sie in einem Pick-up jemanden mit Geld vermuten", erzählt Eren.

Seit Jahren gilt Jemen als ärmstes Land der Arabischen Halbinsel. Doch seit dem Krieg hat sich die humanitäre Lage immer weiter zugespitzt: Mehr als 50 Prozent der Jemeniten haben seit Beginn des Konflikts ihre Arbeit verloren. Alles begann, als die von Iran unterstützten Huthi-Kämpfer 2014 in Sanaa einmarschierten und Präsident Abed Rabbo Mansur Hadi aus dem Amt jagten. Seither herrscht nicht nur Bürgerkrieg, sondern auch ein Stellvertreterkrieg zwischen regionalen Erzfeinden: Die Huthi werden maßgeblich von Iran unterstützt, die Regierungstruppen Hadis von Saudi-Arabien.

Huthi-Kämpfer bei einer der vielen Protestdemonstrationen der vergangenen Tage gegen die USA und Großbritannien. (Foto: AP/AP)

Vor dem Krieg in Nahost standen die Zeichen auf Entspannung zwischen Huthi und Saudi-Arabien, das sich angesichts internationaler Kritik und der Annäherung an Iran gesichtswahrend aus dem Konflikt zurückziehen möchte. Doch nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober in Israel, dem darauffolgenden Gaza-Krieg und den Huthi-Angriffen auf Handelsschiffe im Roten Meer könnte Riad in die westliche Militärkoalition hineingezogen werden.

Für die Jemeniten kommt die erneute Eskalation zur Unzeit: Mehr als 21 Millionen Menschen benötigen humanitäre Unterstützung, rund 17 Millionen Menschen haben keinen sicheren Zugang zu Nahrung - und mehr als zwei Millionen Kinder leiden laut Welternährungsprogramm an akuter Unterernährung.

Abeer Etefa, Sprecherin des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP) für die Region, berichtet der SZ, dass die Organisation seit November keine Lebensmittel mehr in Nord- und Zentraljemen verteilt, also in den Huthi-Gebieten. "Wir verhandeln mit den Huthi gerade darüber, die Hilfe für besonders Hunger leidende Jemeniten zu priorisieren", erzählt Etefa am Telefon. Die Verhandlungen liefen schleppend, die Huthi stellten sich quer, sie wollten, so Etefa, dass weiterhin neun Millionen Jemeniten gleichermaßen mit Lebensmitteln versorgt werden, weil sie sonst soziale Spannungen fürchten.

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Doch das WFP unterscheidet fünf Hungerphasen, die von ausreichender Ernährung bis zur extremsten Form der Hungersnot reichen. 3,5 Millionen Jemeniten, die in den Huthi-Gebieten leben, schätzt die Organisation als besonders gefährdet ein. Sie gelten als humanitärer Notfall (IPC Phase 4) oder stehen kurz vor einer Hungersnot (IPC Phase 5), weil sie keinen Zugang zu Nahrung haben. "Wir müssen unsere Kapazitäten leider ganz gezielt einsetzen, seit dem Krieg in der Ukraine hat sich die wirtschaftliche Lage zugespitzt. Alles ist teurer geworden, nicht nur die Lebensmittel, sondern auch die Transportwege", sagt Etefa. Hinzu komme, dass in der Region so viele Konflikte seit Jahren bestehen, dass sie auf der Geberseite eine "Spendenmüdigkeit" beobachten.

Die Eskalation im Roten Meer beobachten das WFP und Stelp mit großer Sorge. "Die notleidenden Menschen haben vor allem Angst, dass die Huthi weiter zündeln und die Amerikaner dann den Hafen in Hodeidah angreifen", sagt Serkan Eren von Stelp. Über diesen Hafen wird ein Großteil der humanitären Hilfe geliefert.

Doch eine baldige Entspannung der Lage ist nicht in Sicht, die Huthi stehen angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen und humanitären Lage intern unter großem Druck. Durch die Angriffe auf westliche Handelsschiffe im Roten Meer, die sie als Solidaritätsaktion für die Menschen in Gaza darstellen, erhoffen sie sich auch eine Image-Aufwertung - und einen neuen Sündenbock, dem sie die anhaltenden Probleme in Jemen zuschieben können.

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