Gaza-Krieg:Angst vor einem "Monat des Terrors"

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Gläubige Muslime beim Freitagsgebet vor der Al-Aksa-Moschee (nicht im Bild) auf dem Tempelberg. Im Hintergrund der Felsendom. (Foto: Sinan Abu Mayzer/Reuters)

Während des Ramadan ist die Gefahr gewalttätiger Proteste auf dem Tempelberg in Jerusalem gewaltig. Premier Netanjahu musste deshalb eine schwierige Entscheidung treffen.

Von Tomas Avenarius, Tel Aviv

Es war die Jerusalem Post, die den im Nahen Osten als Vater allen Übels verschrienen Briten Mark Sykes aus der Mottenkiste kramte. Jerusalem sei "ein brandgefährliches Territorium", wurde der britische Diplomat zitiert. Ein fahrlässiges Wort oder eine falsche Geste "könnte den halben Kontinent in Flammen setzen". Der von der israelischen Zeitung bemühte Sykes ist zwar lange tot. Im Ersten Weltkrieg hatte er mit dem Franzosen François Georges-Picot die Grundskizze für die von Europas Imperialisten betriebene Zerstückelung der damaligen islamischen Welt entworfen - die Folgen sind bis heute endlose Kriege und Konflikte. Aber mit seiner Jerusalem-Analyse von 1917 behält Sykes auch 2024 recht: Jerusalem und der den Juden, Christen und Muslimen heilige Tempelberg sind Symbole des Nahost-Konflikts und können jederzeit Anlass für Gewalt liefern.

Das gilt besonders im Gaza-Krieg. Wenige Tage vor Beginn des Ramadan, des den Muslimen heiligen Fastenmonats, zankte das israelische Kabinett jetzt darüber, wie viele Palästinenser im Ramadan in diesem Kriegsjahr zu den traditionellen Ramadan-Gebeten auf den Tempelberg kommen dürfen. Denn die Gefahr gewalttätiger Proteste, zusätzlich angeheizt von Terrorgruppen wie der Hamas und dem Islamischen Dschihad, ist gewaltig. Der Islamische Dschihad hat die Palästinenser bereits aufgerufen, den Ramadan zu einem "Monat des Terrors" zu machen. Und auch die in Gaza von der israelischen Armee in den Untergrund gedrängte Hamas hofft, dass die religiös erhitzten Gemüter im Fastenmonat ihrer Sache dienen.

Experten befürchten Aufwallung in Ost-Jerusalem

Regierungschef Benjamin Netanjahu entschied sich nun gegen die rechten Hardliner in seinem Kabinett: Der Zugang zum ohnehin schon regulierten Tempelberg solle sein wie früher. Allerdings werde man auf der Basis "von Aspekten von Sicherheit und Schutz" jede Woche neu entscheiden. Damit stellt sich Netanjahu offen gegen die rechtsextremen Minister in seiner Regierung. Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir wollte den Zugang zum "Haram al-Sharif", wie der Ort im Arabischen genannt wird, sehr stark reglementieren. Ben-Gvirs Begründung für Restriktionen: Man führe in Gaza Krieg gegen die Hamas. Bei freiem Zugang könnten Palästinenser auf dem Tempelberg protestieren. Am Ende würde die Hamas-Flagge über dem Haram al-Sharif wehen, so der Minister. "Ein Siegesfoto für die Hamas" werde um die Welt gehen.

Seit Wochen befürchten Experten, dass der Ramadan eine Aufwallung in Ost-Jerusalem und dem israelisch besetzten Westjordanland auslösen wird - das Westjordanland grenzt an Ost-Jerusalem. Aber genau deshalb hatten die Chefs der israelischen Armee, der Polizei und des Inlandsgeheimdienstes Netanjahu nach Abwägung aller Risiken abgeraten, den Zugang zum Haram al-Sharif noch stärker zu reglementieren und so Öl ins Feuer zu gießen; seit Kriegsbeginn am 7. Oktober gelten ohnehin ungewöhnlich strenge Regeln.

Die Lageeinschätzung ergibt Sinn. Ein Ende des Kriegs ist nicht in Sicht. Weder Israel noch die Hamas zeigen Bereitschaft zu Frieden. Der Austausch weiterer Geiseln gegen Gefangene kommt nicht vom Fleck. Im Bombenhagel von Gaza sind aber inzwischen mehr als 30 000 Palästinenser gestorben. Zwei Drittel davon sind nach palästinensischen Angaben Frauen und Kinder. Hunderttausende Menschen haben nicht genug zu essen, die UN warnen vor einer Hungerkatastrophe. Und die USA, bisher immer der beste Freund Israels, werfen aus Militärflugzeugen Nahrungsmittel über Gaza ab, weil Washington Netanjahu nicht überzeugen kann, mehr Hilfskonvois in das Palästinensergebiet zu lassen.

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Das ist die Ausgangslage vor dem Ramadan, der am Abend des 10. März beginnt. Und im Fastenmonat beten die Muslime traditionell in großer Zahl auf dem Tempelberg. Die Gläubigen versammeln sich im Haram al-Sharif mit der Al-Aksa-Moschee und dem Felsendom - der Dom mit seiner Goldkuppel ist zentral für die Erzählung vom Leben des Propheten Mohammed und seiner "Himmelsreise". Der Zugang ist seit der israelischen Eroberung Ost-Jerusalems im Jahr 1967 streng geregelt. Die Verwaltung liegt in der Hand einer muslimischen Stiftung unter jordanischer Aufsicht. Als männliche Besucher sind nur sehr junge oder deutlich ältere Muslime zugelassen. Auch der Zugang für Juden, Christen und Touristen ist reglementiert. Was die Sache so brisant macht: Der Haram al-Sharif liegt auf dem Gelände, auf dem in der Antike der jüdische Tempel stand. Die den Juden heilige Klagemauer als Überrest des Tempels grenzt an das muslimische Heiligtum sehr nahe an.

Wegen der heiligen Stätten auf dem Tempelberg ist es immer wieder zu Gewaltausbrüchen gekommen. Im Jahr 2000 war der damalige Oppositionsführer Ariel Sharon, selbst langjähriger Premierminister, auf dem Berg erschienen. Der Auftritt löste die "Zweite Intifada" aus. Bei diesem Palästinenseraufstand mit Terroranschlägen und härtestem Vorgehen der Sicherheitskräfte starben mehr als eintausend Israelis und fast 4000 Palästinenser. Sollte ein auf Provokation aus seiender Politiker wie Ben-Gvir sich Ariel Sharon als Beispiel nehmen, könnte dies die Katastrophe auslösen, vor der der Brite Sykes 1917 gewarnt hatte.

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