Israel und die Palästinenser:Warum der Konflikt nun wieder eskaliert

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Israelische Polizisten halten jungen Palästinenser in Jerusalem fest. (Foto: Ammar Awad/REUTERS)

Straßenschlachte in Jerusalem, Raketen aus dem Gazastreifen und sogenannter Tiktok-Terrorismus: Nach einem Jahr relativer Ruhe kommt es zu neuen Gewaltausbrüchen zwischen Israelis und Palästinensern. Sie fallen in eine hochsensible Zeit.

Von Peter Münch, Tel Aviv

Rund um den Gazastreifen heulen wieder die Sirenen, Raketenbeschuss treibt die Bewohner in die Bunker. Durch Jerusalem wabert indes der Gestank von fauligem Wasser, mit dem die Polizei die Demonstranten auseinandertreibt. Jeden Abend kommt es rund um das Damaskustor zu Straßenschlachten. Nach einem Jahr der relativen Ruhe, die das Coronavirus auch über diesen Konflikt gestülpt hatte, ist die Gewalt zurück in der Auseinandersetzung zwischen Israelis und Palästinensern. Und es gibt reichlich Potenzial zur Eskalation.

Einen einzelnen Auslöser für das Auflodern der Flammen gibt es nicht. Gefährlich ist der Gewaltausbruch vielmehr in der Summe einzelner Vorkommnisse. So sieht sich die arabische Bevölkerung von Ostjerusalem provoziert durch die Entscheidung der israelischen Polizei, ausgerechnet im heiligen Monat Ramadan den Platz vor dem Damaskustor in der Altstadt zu sperren. Schließlich gehört es zur Tradition, sich nach dem Iftar, dem Mahl zum Fastenbrechen, dort auf den Stufen zu treffen. Auf die Absperrgitter und Polizeikohorten reagieren arabische Jugendliche nun mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern.

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Steine, Flaschen und Gewaltvideos

Dazu kommt noch ein neues Phänomen, das sogleich mit dem kraftvollen Ausdruck Tiktok-Terrorismus belegt wurde. In diesem sozialen Netzwerk waren in jüngster Zeit ein paar Videos zu sehen, in denen junge Araber sich stolz dabei zeigten, wie sie in Jerusalem ultraorthodoxe Juden verprügelten. Für radikale israelische Gruppen wie Lehava war das ein Anlass für Rachefeldzüge.

Vorläufiger Kulminationspunkt war zum Ende der vorigen Woche ein Marsch in Richtung Damaskustor, zu dem Lehava die gewaltbereiten Anhänger aufgerufen hatte. Das Motto: "Die Wiederherstellung der jüdischen Würde." In Sprechchören wurde "Tod den Arabern" gerufen. Weil auf arabischer Seite zeitgleich zur Verteidigung gegen die "Siedler-Schläger" aufgerufen wurde, folgte eine Nacht der Gewalt, wie sie Jerusalem seit Jahren nicht mehr erlebt hatte. Der Rote Halbmond meldete mehr als hundert Verletzte auf palästinensischer Seite. Die Polizei, die sich dem Vorwurf stellen muss, mit weit größerer Härte gegen arabische als gegen jüdische Demonstranten vorzugehen, nahm auf beiden Seiten Dutzende fest.

Das dröhnendste Echo auf die Jerusalemer Gewalt kam aus dem Gazastreifen. 36 Raketen in Richtung der umliegenden israelischen Gemeinden wurden allein in der Nacht zum Samstag gezählt, ein paar weitere folgten im Verlauf des Wochenendes. Zum Beschuss bekannten sich palästinensische Gruppen, die zum bewaffneten Arm der Fatah und zur Volksfront zur Befreiung Palästinas gehören. Rückendeckung bekamen sie sogleich von einem Sprecher der in Gaza herrschenden Hamas, der betonte, dass das gesamte Volk die Palästinenser in Jerusalem unterstütze.

Israels Armee reagierte mit dem Beschuss von Hamas-Einrichtungen. Ungewöhnlicherweise kam noch am Schabbat die Spitze des Sicherheitsapparats zusammen. Verteidigungsminister Benny Gantz warnte hinterher, bei weiterem Raketenbeschuss werde "Gaza hart getroffen, wirtschaftlich und militärisch". Premierminister Benjamin Netanjahu wies die Sicherheitskräfte an, sich "auf alle Szenarien vorzubereiten". Generalstabschef Aviv Kochavi verschob eine Reise nach Washington, wo eigentlich in dieser Woche die eminent wichtigen Gespräche über eine Abstimmung mit den USA zu den Verhandlungen über ein neues Atomabkommen mit Iran geführt werden sollen.

Der Gewaltausbruch fällt in eine hochsensible Zeit

Doch nun geht erst einmal wieder der Konflikt mit den Palästinensern vor. Der Gewaltausbruch fällt in eine hochsensible Zeit, in der Kräfte auf beiden Seiten versucht sein könnten, Vorteile aus einer Eskalation zu ziehen. So könnte sich Netanjahu, der in Israel gerade bei der Regierungsbildung zu scheitern droht, wieder einmal als der Mann inszenieren, der mit harter Hand Israels Sicherheit wiederherstellt.

Auf der anderen Seite befinden sich die beiden palästinensischen Rivalen Fatah und Hamas im Wahlkampf zur geplanten palästinensischen Parlamentswahl am 22. Mai - und müssen sich folglich beide als bedingungslose Verteidiger Jerusalems zeigen. Am Ende könnte die Gewalt dem bedrängten Präsidenten Mahmud Abbas sogar noch einen weiteren Grund für eine Verschiebung der Wahlen liefern.

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