Feuerpause gegen Freiheit für die Geiseln - das ist der Handel, der derzeit den nahöstlichen Kriegsschauplatz bestimmt. An jedem Tag der Ruhe werden zehn israelische Kinder und Frauen ausgetauscht gegen 30 palästinensische Häftlinge, ebenfalls Frauen und Minderjährige. Auch am Mittwoch war das so, hat die islamistische Hamas zehn weitere in den Gazastreifen entführte Israelis dem Roten Kreuz übergeben, wie das israelische Militär auf X mitteilte. Nach Angaben des katarischen Außenministeriums sind drei davon Doppelstaatler, die auch den deutschen Pass haben.
Seit vorigem Freitag läuft diese Abmachung, zuerst vereinbart für vier Tage, seitdem wird täglich um Verlängerung gerungen. Doch das von Katar vermittelte Abkommen hat spätestens ein Fristende am Sonntag. Und dann?
Zwei Szenarien werden hektisch diskutiert: eins für Optimisten, eins für Realisten. Die Optimisten hoffen darauf, dass es nach Ablauf des ersten Abkommens eine neue Vereinbarung gibt, die zur Freilassung aller Geiseln führt. Die Realisten rechnen damit, dass der Krieg sehr bald wieder aufflammt - "mit voller Stärke", wie Israels Premierminister Benjamin Netanjahu schon angekündigt hat.
Ein dauerhafter Waffenstillstand würde der Hamas das Überleben sichern
Treibende Kraft für eine neue, umfassende Vereinbarung ist die derzeit nimmermüde Regierung in Katar, die für einen stabilen Waffenstillstand wirbt und dazu eine Art Fahrplan zur Freilassung aller Geiseln erstellt. In die Gespräche einbezogen sind in Doha CIA-Direktor William Burns und auf israelischer Seite Mossad-Chef David Barnea. Spekulationen darüber, dass ein größerer Wurf geplant wird, werden dadurch genährt, dass nun auch der in Gaza bestens vernetzte ägyptische Geheimdienstchef Abbas Kamel mit am Tisch sitzt.
Berichten zufolge wollen die Katarer die nach dem Austausch aller Frauen und Kinder verbleibenden Geiseln in mehrere Gruppen aufteilen, die schrittweise freikommen könnten: Erst diejenigen Männer, die zu alt für den militärischen Reservedienst in Israel sind, danach weibliche Soldaten, männliche Reservisten und aktive Soldaten. Ganz zum Schluss soll es um die Freigabe von Leichen gehen.
Die Hamas sendet positive Signale zu diesem Vorschlag - weil sie sich davon enorm viel verspricht. Schon mit Kriegsbeginn hat sie den Austausch aller Geiseln gegen alle palästinensischen Häftlinge in israelischen Gefängnissen gefordert. Frei kämen dabei auch Mörder und jene Terroristen, die am Massaker des 7. Oktober beteiligt waren. Der Hamas wäre damit der Heldenstatus bei den Palästinensern und in der arabischen Welt gewiss. Ein dauerhafter Waffenstillstand würde ihr obendrein das Überleben sichern. Sie würde also reich belohnt für ihren blutrünstigen Terrorangriff.
Netanjahus Handlungsspielraum ist eingeschränkt
In Israel ist das folglich nicht vermittelbar. Sosehr das ganze Land die Rückkehr aller Geiseln herbeisehnt, so klar ist, dass zugleich nicht das zweite Kriegsziel aufgegeben wird: die Zerstörung der Hamas, die als Bedingung dafür gilt, dass Israel an der Grenze im Süden keiner Bedrohung mehr ausgesetzt wird.
In dieser Frage gibt es für die Regierung mit Rückendeckung eines Großteils der Bevölkerung kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-Auch. Der Handlungsspielraum von Premier Netanjahu wird überdies dadurch eingeschränkt, dass seine ultrarechten Koalitionspartner im Falle eines Geisel-Abkommens unter dem Rubrum "alle gegen alle" mit dem Rückzug aus der Regierung gedroht haben.
Nur militärischer Druck, so glaubt man, kann die Hamas zum Einlenken, also zur Freilassung der Geiseln bewegen. Unbeantwortet bleibt dabei die Frage, warum die Hamas einlenken sollte, wenn am Ende des Prozesses das unverrückbare Ziel ihrer Zerstörung steht.
Die USA fordern mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung
In dieser an allen Enden komplizierten Lage wird US-Außenminister Antony Blinken in Israel erwartet, zu seinem dritten Besuch seit Kriegsbeginn. Die US-Regierung bekennt sich nicht nur zu Israels Recht auf Selbstverteidigung, sondern unterstützt auch das ausgegebene Ziel einer Vertreibung der Hamas von der Macht in Gaza. Dokumentiert wird diese Unterstützung durch großzügige Waffen- und Munitionslieferungen, ohne die Israel diesen Krieg kaum noch führen könnte.
Jenseits dieser Solidarität aber kommt Blinken mit einem klaren Arbeitsauftrag nach Israel. Er soll der Regierung Netanjahu die Bedingungen übermitteln, unter denen die USA diesen Krieg weiter unterstützen wollen. Angesichts der hohen Zahl an zivilen Opfern, die nach Angaben der Behörden in Gaza mehr als zwei Drittel der insgesamt knapp 15 000 Toten ausmachen, fordert Washington vor allem explizit mehr Rücksicht auf die Zivilbevölkerung - zumal dann, wenn sich der Krieg in den mit Flüchtlingen völlig überfüllten Süden des Gazastreifens verlagert.
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Zu reden sein wird auch über den Tag danach, über die Frage also, was nach dem Krieg aus dem Konfliktgebiet werden soll. Präsident Joe Biden möchte das Thema grundsätzlich angehen und die Zwei-Staaten-Lösung wiederbeleben. Israels rechte Regierung lehnt das kategorisch ab. Für die israelisch-amerikanischen Beziehungen steckt darin einiges Konfliktpotenzial.