Krieg in Gaza:Der Fluchtweg, der nur theoretisch offen ist

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Palästinenser warten am Grenzübergang Rafah zwischen dem Gazastreifen und Ägypten. (Foto: Abed Rahim Khatib/DPA)

Der Grenzübergang Rafah ist für Millionen Palästinenser die einzige Möglichkeit, vor der Großoffensive ins sichere Ägypten zu entkommen. Das macht ihn aber de facto dicht - aus Angst, Israel könnte die Menschen nicht wieder zurücklassen.

Von Bernd Dörries, Kairo

"Ich sage den Bewohnern des Gazastreifens: Geht jetzt, denn wir werden überall mit Gewalt vorgehen", sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu am vergangenen Sonntag, einen Tag nach den Terrorangriffen der Hamas. Wenige Tage später wiederholte Armeesprecher Richard Hecht den Hinweis: "Jedem, der rauskann, würde ich raten rauszugehen." Hecht schlug auch gleich eine Route vor, den Rafah-Grenzübergang nach Ägypten, der nach der Totalblockade des Gazastreifens durch Israel die einzige Möglichkeit ist, das Gebiet vor der wohl sehr bald beginnenden israelischen Großoffensive zu verlassen, oder umgekehrt Hilfe zur eingeschlossenen Bevölkerung zu bringen. Theoretisch zumindest.

Die israelische Armee musste den Aufruf ihres Sprechers Hecht wenig später korrigieren: Der Grenzübergang zu Ägypten war zu dieser Zeit gar nicht geöffnet, Israel hatte die palästinensische Seite der Sperranlagen mehrmals bombardiert, weshalb die Ägypter den Übergang dichtmachten. Vorübergehend zumindest.

(Foto: SZ-Karte/Mapcreator.io/OSM)

Freitagfrüh forderten die Israelis alle Bewohner des nördlichen Gazastreifens auf, in den Süden zu flüchten, und wiederholten ihre Aufrufe, die Palästinenser sollten doch durch den Grenzübergang nach Ägypten flüchten. Der ehemalige israelische Botschafter in Washington, Danny Ayalon, warb im Fernsehen für die aus seiner Sicht praktische Lösung: "Wir sagen den Menschen in Gaza nicht, dass sie an die Strände gehen oder sich ertränken sollen (...). Nein, Gott bewahre (...). Geht in die Wüste Sinai (...). Die internationale Gemeinschaft wird ihnen Städte bauen und sie mit Nahrung versorgen (...). Ägypten sollte da mitspielen." Auch international wachsen die diplomatischen Bemühungen, den Palästinensern einen sogenannten humanitären Korridor zu verschaffen. Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock reiste am Samstag nach Kairo, wo sich auch ihr türkischer Kollege aufhielt.

Ägypten fürchtet, Israel wolle das Palästinenser-Problem abschieben

Ägypten will aber bisher nicht mitspielen. Die Regierung in Kairo behauptet zwar, die Grenze geöffnet zu haben, Hilfsorganisationen berichten aber von einem langen Stau von Hilfsgütern, die angeblich nicht nach Gaza kommen, weil Israel damit gedroht habe, alle Hilfskonvois zu bombardieren. Ägypten verweigert bislang im Gegenzug die Ausreise von Palästinensern mit US-Pass und anderen Ausländern, um wiederum den Druck auf Israel zu erhöhen, doch Hilfsgüter ins Land zu lassen. Bei einem aber will Kairo hart bleiben: Eine Einreise Tausender Flüchtlinge oder gar einen offenen humanitären Korridor will Ägypten offenbar mit allen Mitteln verhindern. Auch wenn aus Washington nun offenbar Signale kommen, dem hoch verschuldeten Land könnte im Gegenzug ein Teil seiner Schulden erlassen werden.

Wie auch viele Palästinenser und arabische Staaten vermuten die Ägypter schon lange, dass Israel bei passender Gelegenheit versuchen würde, das Palästinenser-Problem in den Süden abzuschieben. Es weckt für sie Erinnerungen an die "Nakba", die durch die Staatsgründung Israels ausgelöste Massenflucht und -vertreibung von etwa 700 000 Palästinensern, die teilweise bis heute in den Flüchtlingslagern der Nachbarländer leben.

Der frühere ägyptische Präsident Hosni Mubarak erzählte einmal, Netanjahu habe ihm 2010 vorgeschlagen, die Palästinenser aus Gaza doch im Sinai anzusiedeln, wo es Platz genug gebe. Ob das stimmt, lässt sich nicht ermitteln, aber der aktuelle ägyptische Staatschef Abdel Fattah al-Sisi hat bereits deutlich gemacht, dass er die Grenze dicht lassen möchte: "Die palästinensische Frage ist die Frage aller Fragen und die Frage aller Araber. Es ist wichtig, dass ihr Volk standhaft und auf seinem Land präsent bleibt, und wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um es zu verteidigen."

"Haltet an eurem Land fest"

Auch die Hamas möchte nicht, dass Palästinenser das Land verlassen, sie sollen es vielmehr verteidigen und als Märtyrer sterben. In vielen Moscheen wurden die Gläubigen am Freitag aufgefordert: "Haltet an euren Häusern fest. Haltet an eurem Land fest." Auch der jordanische König Abdullah warnte "vor jedem Versuch, Palästinenser gewaltsam aus allen palästinensischen Gebieten zu vertreiben". Der Vorsitzende der 22 Mitglieder zählenden Arabischen Liga, Ahmed Aboul Gheit, appellierte an UN-Generalsekretär António Guterres, "diesen irrsinnigen israelischen Versuch der Umsiedlung der Bevölkerung" zu verurteilen. Für Ägypten spielen zusätzlich noch Sicherheitsaspekte eine große Rolle. Die Hamas teilt die Ideologie der Muslimbrüder, die al-Sisi 2013 von der Macht putschte und zu Tausenden ins Gefängnis steckte.

Wie lange Ägypten aber daran festhalten kann, nur ein Minimum an Flüchtlingen aus Gaza hereinzulassen, wird sich in den kommenden Tagen entscheiden. Je brutaler der Gegenschlag der Israelis ausfällt, umso mehr Zivilisten sterben und Krankenhäuser überrannt werden, desto lauter wird der Ruf nach einer sicheren Passage werden. Die Lage im Gazastreifen wird nach Darstellung der Vereinten Nationen "rasch untragbar". Dort gebe es keinen Strom, kein Wasser, keinen Treibstoff und die Lebensmittel gingen zur Neige, erklärte der UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths am Samstag. An vielen Orten wird das Trinkwasser knapp.

"Die Krankenhäuser im Gazastreifen stehen kurz vor dem Zusammenbruch", warnte Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Bewohner aus Gaza berichten, dass bereits vor dem Beginn der israelischen Offensive ganze Straßenzüge in Schutt und Asche liegen. Das UN-Nothilfebüro (Ocha) sagte, bisher seien fast 340 000 Menschen aus ihren Wohnungen geflüchtet. Wirklich sichere Orte gebe es aber nirgendwo in dem kleinen, nur 40 Kilometer langen und zwischen sechs und zwölf Kilometer breiten Territorium.

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Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte am Samstag in Kairo, die Aufnahmekapazitäten im Süden des Gazastreifens seien völlig überlastet. "Deswegen arbeiten wir gemeinsam mit den Vereinten Nationen, den USA, und anderen Partnern an Schutzorten in Gaza, in denen vor allem Familien und Kinder vor dem Kampfgeschehen geschützt sind und mit dem Notwendigsten versorgt werden können."

Laut der ägyptischen Zeitung Mada Masr hat die Regierung bereits Vorbereitungen getroffen, innerhalb einer 14 Kilometer breiten Pufferzone um den Grenzübergang Rafah Zeltstädte aufzubauen. Die Vorbereitungen sind auch eine Konsequenz aus Vorfällen im Jahr 2008. Damals durchbrachen Palästinenser den Grenzwall, Hunderttausende strömten aus dem von einer Blockade ausgehungertem Gazastreifen nach Ägypten, um Nahrungsmittel einzukaufen. Heute ist die Lage deutlich dramatischer.

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