Interview mit Joachim Gauck (2):An der Sarrazin-Debatte krepiert das Land nicht gleich"

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sueddeutsche.de: Warum dann diese massive Aufregung?

Muslima in einer Berliner S-Bahn Foto: Regina Schmeken

Muslima in einer Berliner S-Bahn

(Foto: Regina Schmeken)

Gauck: Es ist wie so oft eine Pendelbewegung. Wir haben geglaubt, wir sind nicht nur eine Gesellschaft deutscher Dumpfnickel. Wir sind eine bunte, lebendige Gesellschaft. Wow. Schön. Aber es funktioniert eben nicht alles so harmonisch, wie sich das einige gewünscht haben. Jetzt schlägt das Pendel zurück.

sueddeutsche.de: Wie würden Sie das deutsche Integrationsproblem beschreiben?

Gauck: Es besteht nicht darin, dass es Ausländer oder Muslime gibt - sondern es betrifft die Abgehängten dieser Gesellschaft. Darum erscheint es notwendig, und das ist meine Kritik an Sarrazin, genauer zu differenzieren und nicht mit einem einzigen biologischen Schlüssel alles erklären zu wollen. Und plötzlich wird aus einem Hype eine nüchterne Debatte.

sueddeutsche.de: Macht Sarrazin nicht mit seinen oft polemischen Äußerungen eine nüchterne Debatte unmöglich?

Gauck: Zu solchen Debatten gehört die Zuspitzung und auch die populistische Übertreibung. Daran krepiert das Land nicht gleich. Darum schaue ich etwas ängstlich auf eine Entwicklung, die Peer Steinbrück jüngst als "Kultur der Wohlfahrtsausschüsse" umschrieben hat: Da fällen die Weisen ihr Verdikt, eines Anathemas des Papstes gleich: Verschwinde aus meiner Partei, Du bist der Teufel! Nein, wir sollen ihn kritisieren, wo es nötig ist, und seine Anregungen aufnehmen. Was mir an diesem Teil des Medienhypes nicht gefällt, ist, dass ein großer Teil der Bewegung angstgesteuert ist. Ich bin unglaublich allergisch gegenüber einer Politik, die maßgeblich auf Angstreflexe setzt. Das gilt auch bei anderen Themen, etwa wenn es um die Nutzung der Atomenergie geht. Wir sollen auf Aktionsformen verzichten, die auf die Angst von Menschen setzen und daraus eine Dynamik ableiten.

sueddeutsche.de: Wie erklären Sie sich die breite und diffuse Angst vor Ausländern in diesem Land? Tatsächlich betreffen die harten Integrationsprobleme ja nur sehr wenige Quartiere in größeren Städten.

Gauck: Mittelstandsfamilien, die Angst vor dem Absturz haben, neigen dazu, ein Bedrohungsszenario zu entwickeln, in dem der Fremde, das Fremde, der Andersartige das eigentliche Problem wäre. Und es gibt unter Politikern offenbar die weitverbreitete Angst etwas zu tun, was Wählerstimmen kosten könnte. Das verhindert sehr oft eine offene Debatte.

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