Mitte vergangener Woche ging es los. Seitdem gehen im Bundestags-Büro von Linksfraktionschef Dietmar Bartsch täglich etwa 500 E-Mails zum gleichen Thema ein. Es geht um das "Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung", das sogenannte Infektionsschutzgesetz. An diesem Mittwoch soll es im Parlament beschlossen werden. Viele dieser Mails haben ähnliche Textbausteine, immer wieder wird von einem angeblichen "Ermächtigungsgesetz" gewarnt. Dennoch unterscheiden sich die meisten Zuschriften deutlich in der Form. Im Büro Bartsch geht man deshalb davon aus, dass es sich nicht ausschließlich um einen sogenannten Bot handelt, also um eine automatisch generierte Spam-Welle, sondern dass hier auch real existierende Mail-Schreiber am Werk sind.
37 000 Mails allein an CSU-Landesgruppenchef Dobrindt
Es spielt im Kreis der Absender offensichtlich keine Rolle, dass Bartsch im Grunde der falsche Ansprechpartner ist. Er und seine Linksfraktion wollen die von der Regierung eingebrachte Novelle des Infektionsschutzgesetzes am Mittwoch ohnehin ablehnen. Die Mail-Flut erreicht aber alle Parlamentarier, ganz gleich aus welcher Fraktion. Konstantin Kuhle, der innenpolitische Sprecher der FDP, teilte am Montagnachmittag mit: "In den Büros aller Abgeordneten gehen gerade Tausende solcher Mails ein." Der CDU-Abgeordnete Sepp Müller zählte zu diesem Zeitpunkt 1000 Nachrichten pro Minute. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sagte, allein sein Büro habe bis zum Dienstagvormittag etwa 37 000 solcher Mails erhalten. Ein großer Teil sei gleichlautend. Wer dahinter stehe, könne man nicht klären. Aus verschiedenen Abgeordneten-Büros ist zu hören, solche Aktionen gebe es immer mal wieder, aber nicht in dieser Dimension.
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Die Polizei beschlagnahmt mehrere Laptops, Handys und Speichermedien. Die Durchsuchung ist laut eines Polizeisprechers zur Gefahrenabwehr erfolgt - nicht auf Initiative der Staatsanwaltschaft.
Der elektronische Flashmob gehört offenbar zu einer ganzen Reihe von Protest-Aktionen rund um das Infektionsschutzgesetz. Wie so oft in letzter Zeit scheint sich dahinter eine krude Mischung aus Gegnern der Corona-Maßnahmen, Verschwörungstheoretikern und Verfassungsfeinden zu versammeln. Seit Tagen mobilisieren die Querdenker-Initiative, aber auch Reichsbürger, die NPD und die Identitäre Bewegung für Protestaktionen an diesem Mittwoch vor dem Bundestag. Im August hatten Demonstranten bereits die Sperren vor dem Parlament überlaufen und waren auf die Treppen des Reichstagsgebäudes gestürmt.
Aber auch in weniger martialischen Chatgruppen, in denen sich etwa Eltern versammelt haben, die gegen die Maskenpflicht sind, wird gerade eine Blockade des Bundestags organisiert. Einerseits physisch, am Mittwochmorgen vor Ort, andererseits über Kettenmails, mit denen die E-Mail-Postfächer der Abgeordneten zugespamt werden. Am Montag wurden in mehreren solcher Foren die E-Mail-Adressen aller 709 Abgeordneten gepostet.
Das ist ein "hochexplosives Gemisch", sagt Lars Klingbeil
Man nehme das alles sehr ernst, heißt es einhellig aus den Fraktionen. SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil ist alarmiert angesichts des sich abzeichnenden Teilnehmerkreises der Demonstrationen. "Was sich da am Mittwoch vor dem Bundestag zusammenbraut, hat nichts mehr mit Kritik an politischen Maßnahmen zu tun", sagte Klingbeil der Süddeutschen Zeitung. Das sei ein "hochexplosives Gemisch".
Dobrindt sagte, er gehe davon aus, dass die Polizei sicherstelle, dass die Abgeordneten trotz der angekündigten Proteste in den Bundestag gelangen können. Es wäre "ein mehr als kritischer Vorgang, wenn die Abgeordneten zur Abstimmung im Parlament den Plenarsaal nicht erreichen könnten".
Der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion, Carsten Schneider, sagte, es liege jetzt in der Hand des Bundestagspräsidenten, für die Sicherheit im Gebäude zu sorgen. Ihm untersteht die Parlamentspolizei. Schneider empfiehlt seinen Abgeordneten, am Mittwoch "frühzeitig" im Bundestag zu sein und "Vorsicht walten zu lassen". Unabhängig von ihrem jeweils geplanten Abstimmungsverhalten am Mittwoch ist in den Reihen von Union, SPD, FDP, Grünen und Linken die Empörung groß über den Inhalt der Massenmails.
Er sehe die Änderungen im Infektionsschutzgesetz kritisch, aber "dieser gefährliche Unsinn über ein angebliches Ermächtigungsgesetz" mache ihn sehr betroffen, schrieb der FDP-Politiker Kuhle. CSU-Landesgruppenchef Dobrindt nannte die Parallele zum Ermächtigungsgesetz von 1933 ungeheuerlich. Man erlebe derzeit "einen brutalen Missbrauch von politischer Debatte in den Netzen mit der Nutzung von bewusster Falschinformation, um Polarisierung in der Gesellschaft zu erreichen", sagte Dobrindt. Es gebe mit "falschen Argumenten eine echte Mobilisierung".
Der Umgang damit ist für die genannten Fraktionen auch deshalb kompliziert, weil sie in der Regel ja froh darüber sind, wenn sich Bürger aktiv an politischen Prozessen beteiligen. Er bemühe sich deshalb, auch mit der aktuellen Mail-Flut "vernünftig umzugehen", sagt der parlamentarische Geschäftsführer der Linken, Jan Korte. "Alles, was erkennbar aus meinem Wahlkreis kommt, gerne auch herbe Kritik, wird beantwortet", sagt er. "Alle erkennbar organisierten Massenmails dagegen, die lediglich meine Arbeit behindern sollen, werden direkt gelöscht."
Dobrindt sagte, es gebe auch viele Anrufe aus den Wahlkreisen in den Abgeordnetenbüros. Dabei stelle man dann regelmäßig fest, dass die Bürger Fehlinformationen aus dem Internet aufgesessen seien. Das zeige, dass man jetzt eine kluge Kommunikationsstrategie brauche, um dem entgegenzutreten. Die Fraktionen müssten sich hier mehr engagieren.
AfD befeuert den Protest
Im Bundestag befeuern allerdings auch einige Parlamentarier selbst den Protest. Der AfD-Abgeordnete Norbert Kleinwächter etwa rief vor wenigen Tagen per Youtube-Video dazu auf, die Kollegen anderer Fraktionen mit Massenmails zu fluten und Spontandemos vor Wahlkreisbüros der Abgeordneten von CDU und SPD abzuhalten, "damit die nicht mehr hören, was ihr eigenes Wort ist". Das Infektionsschutzgesetz stehe für den Weg in die "Corona-Diktatur". Auch Kleinwächters Fraktionskollege Petr Bystron rief per Twitter zum Widerstand auf. "Kämpft für unsere Freiheit! Demonstriert dagegen!", forderte Bystron.
Die Fraktionsspitze der AfD klingt in ihrer Kritik ebenfalls martialisch. Die Novelle sei als "verfassungswidriges Notstandsregime" zu attackieren, sagt Alice Weidel, die die Bundestagsfraktion zusammen mit Alexander Gauland führt. Auch aus Landesverbänden der AfD, etwa in Brandenburg, kamen Aufforderungen, sich am Protest zu beteiligen. Der Bundestagsabgeordnete Karsten Hilse war zuletzt gar mit einem T-Shirt der Querdenken-Initiative im Parlament aufgetreten.
Innenministerium untersagt Kundgebungen vor dem Bundestag
Martina Renner, die stellvertretende Parteivorsitzende der Linken und Rechtsextremismus-Expertin ihrer Fraktion, befürchtet sogar, AfD-Mitglieder könnten den Protestierenden "den Weg zu den Eingängen des Bundestages weisen". Derartige Mutmaßungen wies die AfD-Fraktion aber zurück. "Damit haben wir nichts zu tun. Wir distanzieren uns von Aufrufen zur Gewalt in jeder Form", sagte Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann.
Am Dienstagabend reagierte das Bundesinnenministerium auf die Berichte über mögliche Aktionen der Demonstranten am Reichstagsgebäude. Es lehnte zwölf Anträge auf Zulassung von Versammlungen in dem befriedeten Bezirk rund um Bundestag und Bundesrat ab. Gesetzlich sei eine Zulassung nur möglich, wenn eine Beeinträchtigung der Tätigkeit des Bundestags sowie eine Behinderung des freien Zugangs nicht zu befürchten sei, erklärte das Ministerium. Gleiches gelte für den Bundesrat. Diese Voraussetzungen seien aber nicht erfüllt. Man habe die Entscheidung im Einvernehmen mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und dem Bundesrat getroffen. Schäuble ließ mitteilen: "Die Arbeitsfähigkeit des Parlaments als Kern unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung muss sichergestellt bleiben." Zu den Sicherheitsvorkehrungen im Bundestag für diesen Mittwoch wollte Schäubles Verwaltung nichts mitteilen. Es wurde darauf verwiesen, dass man dazu "grundsätzlich keine öffentlichen Erklärungen" abgebe.
Am Dienstag gab es im Bundestag übrigens tatsächlich Probleme mit der IT. Dies lag nach Angaben der Verwaltung aber nicht an den Zigtausenden von Protest-Mails, sondern daran, dass ein Update eingespielt wurde, das nicht richtig funktionierte.