Himalaja:Die gefährlichste Grenze der Welt

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Konflikt im östlichsten Zipfel Indiens: Nahe Tawang im Bundesstaat Arunachal Pradesh gerieten indische und chinesische Truppen im Dezember wieder aneinander. (Foto: Arun Sankar /AFP)

Indien und China stehen sich im Himalaja zunehmend feindlich gegenüber. Nun haben sich die Verteidigungsminister der beiden Giganten zum ersten Mal seit zwei Jahren zu einem Gespräch getroffen.

Von David Pfeifer

Es ist immer wieder schwer zu begreifen, dass das Schicksal so vieler Menschen von so wenigen abhängen kann. In diesem Fall von Chinas Verteidigungsminister Li Shangfu und seinem indischen Gegenüber Rajnath Singh. Beide trafen sich Ende vergangener Woche im Rahmen der Shanghai Cooperation Organisation (SCO) in Delhi. Es war das erste Treffen der beiden Verteidigungsminister seit September 2020. Was ungewöhnlich ist, weil sich die Beziehungen der beiden bevölkerungsreichsten Länder der Welt seitdem verschlechtert hat. Und es zu einem Patt gekommen ist in einem der gefährlichsten Grenzkonflikte, die es derzeit auf der Welt gibt.

Singh warf Peking am Donnerstag vor, durch die Verletzung von Vereinbarungen "die gesamte Grundlage der bilateralen Beziehungen zu untergraben". Er habe sich mit Li Shangfu getroffen, um "offen über die Entwicklungen in den indisch-chinesischen Grenzgebieten zu sprechen", teilte das indische Verteidigungsministerium anschließend mit. Je 100 000 Soldaten beider Länder liegen sich auf jeder Seite der Line of Actual Control (LAC) im Himalaja seit mehr als zwei Jahren feindlich gegenüber. Das sind mehr, als die gesamte Bundeswehr umfasst.

Die LAC ist eine ungefähre Demarkationslinie, die hinterlassen wurde, als die Briten sich 1947 aus der Region zurückzogen. Sie ist etwa 3800 Kilometer lang und verläuft im Gebirge von Ladakh im Westen bis zum indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh, den China als Ganzes für sich beansprucht. Wenige Tage vor Lis Besuch beim SCO in Delhi hatten sich hochrangige indische und chinesische Armeekommandeure zur mittlerweile 18. Gesprächsrunde getroffen, um einen Truppenabzug aus den Spannungsgebieten zu vereinbaren. Diese Runden wurden einberufen, seit es zu den ersten Toten bei Auseinandersetzungen zwischen den beiden Atommächten seit 1975 gekommen war. Bisher verliefen sie ergebnislos.

Die Aggressionen gehen von Peking aus

Mindestens 20 indische und vier chinesische Soldaten starben 2020 im Galwan-Tal. Bei einem weiteren Aufeinandertreffen im Januar 2021 wurden Soldaten beider Seiten verletzt. Es ereignete sich in der Nähe des indischen Bundesstaates Sikkim, der zwischen Bhutan und Nepal liegt. Im vergangenen Dezember gerieten die Truppen zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr wieder aneinander, diesmal in der Nähe von Tawang in Arunachal Pradesh, dem östlichsten Zipfel Indiens.

Es wirkte wie der Versuch Pekings, taktisch wichtiges Gelände am Jangtse-Kamm zu besetzen, wahrscheinlich um die Nachschubroute einer indischen Einheit auf einem Außenposten in der Nähe abzuschneiden. Ein chinesisches Grenzdorf wurde kürzlich errichtet, um Präsenz vor Ort zu schaffen. Tawang ist ein besonderer Ort, Sitz des größten buddhistischen Klosters außerhalb von Lhasa im von China besetzten Tibet. Möglicherweise will China diesen Ort für sich reklamieren, weil er für die Reinkarnation des Dalai Lama und damit für die Zukunft Tibets von besonderer Bedeutung ist. Auf jeden Fall gehen die Aggressionen von Peking aus.

Delhi verhält sich in diesen Konflikten so passiv wie möglich. Ziel der indischen Politik scheint zu sein, Peking international unter Druck zu setzen, sein provokatives Verhalten an der Grenze einzustellen. Der indische Außenminister Jaishankar sagte dazu, dass "der Zustand der Grenze den Zustand der Beziehungen bestimmen wird". Bislang hat sich das Verhalten Chinas an der Grenze jedoch nicht wesentlich geändert.

China ist Indiens größter Handelspartner

Peking bemüht sich andererseits, die beschädigten Beziehungen nach Delhi zu verbessern, indem es Gemeinsamkeiten der Positionen zum Krieg in der Ukraine hervorhebt und das wirtschaftliche Potenzial der Beziehungen betont. China ist Indiens größter Handelspartner. Im vergangenen Herbst kam es immerhin zu einem Handschlag zwischen dem indischen Premierminister Narendra Modi und dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping, beim G-20-Gipfel auf Bali. Ein eskalierender Konflikt würde beiden Riesen schaden.

Dass Li Shangfu und Rajnath Singh sich nun im Rahmen des Treffens der Verteidigungsminister der SOC zusammengesetzt haben, ist immerhin ein Schritt vorwärts. Das letzte Aufeinandertreffen der beiden hatte am Rande eines SCO-Treffens in Moskau stattgefunden. Die Welt hat sich seitdem verändert. Indiens Bedeutung als blockfreier Staat ist gestiegen, aber auch das SCO-Gremium an sich wird immer wichtiger.

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Die SCO besteht neben China und Indien aus Pakistan, Russland, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan und Usbekistan. In vielen dieser Länder verläuft Pekings "Belt and Road Initiative". Indien ist die einzige Großmacht, die China in der Region überhaupt etwas entgegensetzen kann. Und Moskau gilt in dieser Runde als seriöser Gesprächspartner.

Nach dem Treffen gab es noch eine Erklärung der indischen Regierung. Singh sagte demnach zu Li, dass "die Entwicklung der Beziehungen zwischen Indien und China auf Frieden und Ruhe an den Grenzen beruht" und dass alle Grenzfragen in Übereinstimmung mit bestehenden Vereinbarungen und Verpflichtungen gelöst werden müssten. Von chinesischer Seite gab es keinen Kommentar.

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