Berlin und Brüssel wollen sich der Probleme mit Medizinprodukten annehmen. Anlässlich der Berichterstattung unter dem Titel "Implant Files", mit der SZ, NDR, WDR und ihre internationalen Medienpartner am Sonntagabend begonnen haben, kündigte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) an, für mehr Transparenz bei Medizinprodukten zu sorgen.
Jana Anzlinger
Europäische Gesundheitsminister versprechen Konsequenzen aus den Implant Files
Seit der Veröffentlichung der Implant Files am Sonntagabend haben sich mehrere Gesundheitsminister aus EU-Staaten zu Wort gemeldet. Aus Frankreich hat Agnès Buzyn auf das französische Engagement für die neue EU-Verordnung hingewiesen. In der Tat hatte Paris auf strengere Regeln gedrungen als im EU-Parlament letztlich beschlossen wurden.
In Dänemark sagte Ellen Trane Nørby dem Sender Danish Broadcasting Corporation, zwar werde es mit der neuen EU-Verordnung eine europaweite Regelung geben, sie schließe aber nicht aus, dass die Regeln in Dänemark darüber hinaus verschärft werden.
Italiens Gesundheitsministerin Giulia Grillo bedankte sich bei den etwa 60 verantwortlichen Medien für die weltweite Recherche und versprach Konsequenzen. Die bestehende medizinische Datenbank des Landes werde ausgeweitet. "Die Bürger müssen wissen, dass es für die Undurchsichtigkeit des Systems keine Toleranz mehr geben wird."
In Spanien will das Gesundheitsministerium mit Experten und Patientenvertretern über mögliche Änderungen des Systems sprechen.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatte bereits Anfang der Woche eine Meldestelle für implantierte Organe in Deutschland versprochen und der SZ konkrete Vorschläge noch vor Weihnachten angekündigt. Kritiker wiesen darauf hin, dass durch die neue EU-Verordnung ohnehin ein Register notwendig werde.
Jana Anzlinger
Grüne Schulz-Asche: Implantate-Register ist auf EU-Ebene ohnehin beschlossen
Die Gesundheitspolitikerin der Grünen Kordula Schulz-Asche kritisiert das von Gesundheitsminister Spahn geplante Implantate-Register. Spahn verkaufe "alten Wein in neuen Schläuchen", sagt Schulz-Asche der SZ: "Auf europäischer Ebene ist eine Datenbank längst beschlossen, die Anwendungsdaten zur klinischen Sicherheit und Leistungsfähigkeit von Implantaten und Medizinprodukten der Hochrisikoklasse III bündeln soll. Das Problem ist, dass diese Datenbank Patientinnen und Patienten und der Ärzteschaft nicht öffentlich zugänglich gemacht werden soll." Schulz-Asche fordert, dass Informationen darüber, wie sich Implantate bewährt haben, Ärzten und Patienten zur Verfügung stehen müssten.
Jana Anzlinger
Frankreichs Gesundheitsministerium weist auf Engagement für neue EU-Verordnung hin
"Frankreich ist eines der wenigen europäischen Länder, in denen die Deklarierung von Medizinprodukten, die auf den Markt kommen, obligatorisch ist", sagt die französische Gesundheitsministerin Agnès Buzyn als Reaktion auf die Implant Files dem Sender France Inter. Die neue EU-Verordnung ab 2020 sei das Ergebnis des Engagements der französischen Regierung.
Aus Unterlagen, die WDR, NDR und SZ einsehen konnten, geht hervor, dass Frankreich in der Tat für strengere Vorgaben war, während Deutschland blockierte. Die französische Regierung versuchte mit einigen anderen vergeblich, eine Art staatliche Zulassung durchzusetzen. Paris hat sich zudem für ein Expertengremium ausgesprochen, das risikoreiche Produkte neben den Benannten Stellen begutachtet. Die Bundesregierung war gegen ein solches Gremium, doch die Befürworter haben sich durchgesetzt.
Warum die neue Medizinprodukteverordnung aus Brüssel nach Ansicht der Experten die Probleme nicht löst, hat Mauritius Much zusammengefasst:
Jana Anzlinger
Gesundheitsministerium kündigt Vorschläge vor Weihnachten an
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will noch vor Weihnachten konkrete Vorschläge vorlegen, wie die Sicherheit von Medizinprodukten verbessert werden könnte, sagte sein Sprecher der SZ. So prüfe man derzeit, ob der Bund künftig mehr Kompetenzen bekommen sollte, Medizinprodukte zurückzurufen. Ähnliches ist bereits für die Rückrufe von Arzneimitteln geplant. Außerdem wolle er ein Implantate-Register einführen.
Jana Anzlinger
Linken-Abgeordnete Gabelmann: Spahn stellt wirtschaftliche Interessen über Patientenschutz
Die Sprecherin für Arzneimittelpolitik und Patientenrechte der Linken-Fraktion im Bundestag, Sylvia Gabelmann, kritisiert die Bundesregierung und Gesundheitsminister Jens Spahn. Diese dürften "nicht länger die Interessen der Industrie und privater Prüfstellen sowie schnellen Marktzugang" über den Patientenschutz stellen. Es dürfe nicht sein, dass "50 privatwirtschaftliche Einrichtungen" in der EU "Tausenden von gefährlichen Medizinprodukten den Weg auf den Gesundheitsmarkt ebnen". Das gefährde Menschenleben. Sie fordert eine unabhängige staatliche Zulassung und eine zentrale Meldestelle für Probleme mit Implantaten.
Jana Anzlinger
Präsident der Ärztekammer Westfalen-Lippe fordert Kontrollregister
Die Ärztekammer Westfalen-Lippe verlangt eine "generelle Pflicht zur Registrierung und Dokumentation bei der Verwendung von Medizinprodukten", erklärt ihr Präsident Theodor Windhorst den Westfälischen Nachrichten zufolge. Außerdem müssten die Zulassungsstellen selbst kontrolliert werden. Er sei "froh über die Recherche", sagt Windhorst über die Implant Files.
Dominik Fürst
Europäische Grüne fordern unabhängiges Zulassungsverfahren
Tilly Metz, die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion im Europäischen Parlament, beklagt den Systemfehler, den die Implant Files offenlegen: „Die Medizintechnikindustrie macht Millionengeschäfte auf Kosten der Gesundheit der Patienten. Der Medizinskandal legt offen, dass wir es nicht mit Einzelfällen zu tun haben." Die EU-Kommission müsse ein unabhängiges Zulassungsverfahren für Medizinprodukte auf den Weg bringen. "Medizinprodukte müssen auf toxische Wirkung getestet werden und krebserzeugende, erbgutverändernde und fortpflanzungsgefährdende Stoffe haben in Medizinprodukten nichts zu suchen. Patienten haben ein Recht auf transparente und unabhängige Zulassungsverfahren“, so Metz.Dominik Fürst
US-Aufsichtsbehörde will Zulassung von Medizinprodukten erschweren
Die Food and Drug Administration (FDA), die für Medizinprodukte zuständige US-Aufsichtsbehörde, kündigt eine grundlegende Reform der Zulassung von Implantaten an. Wie das Wall Street Journal berichtet, sollen neue Medizinprodukte in den USA in Zukunft wesentlich strenger geprüft werden, bevor sie auf den Markt kommen. Es ist eine der großen Schwachstellen des Systems, dass bislang in vielen Fällen der Verweis auf vergleichbare Produkte genügt, die bereits auf dem Markt sind. Die FDA verkündet die Maßnahme am Tag nach Veröffentlichung der Implant Files, sie sei aber bereits vor einigen Monaten beschlossen worden.Dominik Fürst
EU-Kommission: "Die Geschichte ist noch nicht vorbei"
Die EU-Kommission fordert eine bessere Umsetzung der bestehenden Regeln und Kontrollen. Eine Sprecherin verweist auf das neue Regelwerk, das als Konsequenz aus dem Skandal um geplatzte Brustimplantate 2017 beschlossen worden sei. "Aber die Geschichte ist noch nicht vorbei. Wie immer ist natürlich die Umsetzung der entscheidende Punkt." Die EU-Staaten, Hersteller und Ärzte seien aufgefordert, die strengeren Qualitäts- und Sicherheitsstandards anzuwenden und ihre Arbeit transparenter zu machen, so die Sprecherin: "Patientensicherheit ist ein Thema, das die Kommission sehr ernst nimmt."Dominik Fürst
"Jeder einzelne dort beschriebene Fall ist tragisch und einer zu viel."
Auch aus Spahns Ressort sind nachdenkliche Töne zu vernehmen. Das Bundesgesundheitsministerium nehme die Erkenntnisse aus den Implant Files sehr ernst, sagt ein Sprecher: "Jeder einzelne dort beschriebene Fall ist tragisch und einer zu viel." Auf EU-Ebene sei die Medizinprodukte-Richtlinie überarbeitet und durch zwei Verordnungen ersetzt worden, "die in weiten Teilen im Mai 2020 ihre Wirkung entfalten". Auch an dieser neuen Richtlinie gibt es allerdings bereits Kritik.Dominik Fürst
Spahn reagiert auf die Implant Files
Der Bundesgesundheitsminister äußert sich zu der weltweiten Recherche und will nun für mehr Transparenz bei Medizinprodukten sorgen. "Wir bauen eine industrieunabhängige Stelle auf, bei der alle verbauten Implantate gemeldet werden müssen", sagt Jens Spahn in der Rheinischen Post und räumt Defizite ein. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) habe "keinen Gesamtüberblick über alle vergleichbaren Fälle", wenn es heute Probleme mit einem Medizinprodukt gebe. Das Institut habe in der Folge auch keine Chance, Patienten gezielt vor Fehlern zu warnen. Mit dem Register soll außerdem nachgeprüft werden können, wie lange Implantate halten.Jana Anzlinger
Krankenkassen-Verband: Bundesregierung hat "zu wenig getan"
Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbandes, sieht die Politik in der Verantwortung. "Es gibt keine sicheren Regeln und Vorgaben, die das verhindern. Hier hat die Politik seit Jahren trotz zahlreicher Mahnungen viel zu wenig getan", erklärt Pfeiffer in einer schriftlichen Stellungnahme zu den Implant Files. Sie begrüßt die neue EU-Verordnung zur Zulassung von Medizinprodukten. Die Bundesregierung müsse die neue Regelung "konsequent umsetzen".
Die Verordnung ist seit Mai 2017 in Kraft. Patientenvertreter und Ärzteverbände aber sind enttäuscht: Viele ihrer Forderungen wurden nicht erfüllt.
"Endlich wird es nahezu unmöglich gemacht, dass Medizinprodukte ohne klinische Prüfungen in den Verkehr gebracht werden. Das ist zwar keine Zulassung, aber ein deutlicher Fortschritt", so Pfeiffer trotzdem.
Mehr zum Zulassungsprozess für Implantate erfahren Sie in dieser interaktiven Grafik:
Dominik Fürst
"Woher können wir sicher sein?"
"Nach der OP erfuhr ich vom behandelnden Arzt und Operateur, dass sich die Prothese bereits im Auflösen befand und sehr verwachsen war durch Narbengewebe": Solche und ähnliche Geschichten teilen SZ-Leser derzeit mit den Redakteuren der Implant Files. Sie berichten von Ärzten, die sich nach Operationen weigern, die Implantate herauszugeben, und viele Betroffene stellen die entscheidende Frage: "Woher können wir sicher sein, dass es sich um einwandfreie Produkte handelt?"
Jana Anzlinger
In der ersten Stunde mehr als ein Dutzend Anrufe beim Implant-Files-Telefon
Seit 10 Uhr ist unsere Implant-Files-Telefonleitung freigeschaltet - und schon in der ersten Stunde erreichten uns mehr als ein Dutzend Anrufe. Die meisten riefen an, um ihre Leidensgeschichte mit uns zu teilen.
Noch bis 18 Uhr erreichen Sie heute unter der Nummer (089) 2183-1212 Dr. med. Werner Bartens, Medizinexperte der SZ, Prof. Dr. Hartwig Bauer, Ex-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, sowie zusätzlich Patientenberater der AOK Bayern.
Jana Anzlinger
Unsere Redakteurin beantwortet Ihre Fragen
Ab etwa 11.30 Uhr diskutiert Katrin Langhans, SZ-Autorin und Teil der Projektleitung, live mit Ihnen und beantwortet Fragen: