Übersicht:Was Sie über die Implant Files wissen müssen

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Ein lasches und extrem fehleranfälliges System: Das Ergebnis der Implant-Files-Recherchen ist alarmierend. (Foto: Illustration: Lisa Bucher)

Medizinprodukte werden kaum getestet, Zwischenfälle und Mängel häufig vertuscht: die zehn wichtigsten Ergebnisse der großen Implant-Files-Recherche.

Von Christina Berndt, Katrin Langhans, Mauritius Much und Frederik Obermaier

Das Ergebnis der Implant-Files-Recherchen ist alarmierend: Das Implantationssystem ist manipulierbar, fehlerhaft und verantwortlich für ungezählte Tote - weltweit geht die Zahl in die Zigtausende. Patienten erfahren oft nichts davon, wenn gefährliche Medizinprodukte bereits in manchen Teilen der Welt aufgrund von Todesfällen oder Verletzungen zurückgerufen wurden. Hersteller verschweigen oder vertuschen lebensgefährliche Zwischenfälle. Ärzte setzen ahnungslosen Patienten schlecht getestete Implantate oder Geräte ein. Und die Industrie und ihre Lobbyisten geben alles, um strengere Gesetze für die Zulassung neuer Produkte zu verhindern. Zehn Fakten, die Sie über die Implant Files wissen sollten.

1. Die Zahl der Verletzten und Toten im Zusammenhang mit Medizinprodukten steigt.

Weltweit werden immer mehr Tote und Verletzte im Zusammenhang mit Implantaten und Prothesen gemeldet. In Deutschland hat sich die Zahl der Vorkommnisse in den vergangenen zehn Jahren verdreifacht, in den USA sogar verfünffacht. Die Dunkelziffer dürfte sogar noch höher sein, da ohne eine Obduktion oftmals gar nicht zweifelsfrei festgestellt werden kann, ob jemand beispielsweise an einem defekten Herzschrittmacher gestorben ist. Eigentlich müssen Hersteller, Ärzte und Krankenhäuser es melden, wenn der Verdacht besteht, dass ein Produkt zum Tod oder einem schwerwiegenden Gesundheitsproblem geführt hat. Recherchen von SZ, NDR und WDR legen jedoch nahe, dass oft gegen diese Meldepflicht verstoßen wird. Verlässliche Zahlen darüber, wie viele Implantate oder Prothesen insgesamt eingesetzt wurden, gibt es nicht.

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2. Viele Prothesen und Implantate werden nur an Männern getestet.

Medizinprodukte wie Prothesen und Implantate werden oft von Männern, mit Männern und für Männer entwickelt. Das ist der wichtigste Grund dafür, dass Frauen besonders unter Medizinprodukten leiden. In den Studien, in denen die Produkte getestet werden, sind Frauen in der Regel unterrepräsentiert. Die Folge: Patientinnen kommen mit den Produkten oft nicht gut zurecht, am Ende leiden sie unter Prothesen oder Implantaten mehr als Männer.

3. Es gibt in Europa keine staatliche Zulassung für Prothesen und Implantate.

Anders als beispielsweise in den USA entscheiden in Deutschland private Prüfunternehmen wie TÜV, Dekra oder Eurofins, ob ein Implantat in der Europäischen Union verkauft werden darf. Sie erhalten dann ein sogenanntes CE-Kennzeichen. Das Kürzel CE bedeutet nichts anderes als "Conformité Européene", der französische Begriff für Europäische Gemeinschaft. Ob ein Produkt ein CE-Kennzeichen hat, kann ein Patient nicht einfach überprüfen - es gibt dafür keine öffentliche Datenbank.

4. Private Unternehmen entscheiden, ob ein Produkt implantiert werden darf.

Die CE-Prüfunternehmen, sogenannte Benannte Stellen, verdienen nur dann, wenn Kunden, darunter große multinationale Unternehmen, zu ihnen kommen. Umgekehrt heißt das aber auch: Wenn die Hersteller unzufrieden sind, können sie jederzeit auch zu irgendeiner anderen Prüfstelle gehen, sogar im selben Land. In Deutschland wurden in den vergangenen acht Jahren 10 254 Medizinprodukte neu zertifiziert, aber nur 84 abgelehnt. Welche das sind, verraten weder die Prüfstellen in Deutschland noch die Behörden. Der Gesetzgeber wolle die Daten "bewusst nicht der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen", schreibt dazu das dem Gesundheitsministerium unterstehende Deutsche Institut für Medizinische Dokumentation und Information (Dimdi).

5. Das Zertifizierungssystem ist lasch und extrem fehleranfällig.

Wie fehlerhaft das System zur Zertifizierung von Medizinprodukten ist, haben unter anderem Journalisten des British Medical Journal und des Daily Telegraph aufgedeckt. Sie haben per verdeckter Recherche versucht, eine erfundene Hüftprothese auf den Markt zu bringen. Ihre Bauart war sehr ähnlich zu anderen umstrittenen Hüftprothesen, die zum Teil von ihren Herstellern zurückgerufen wurden oder sogar Gegenstand von Gerichtsverfahren in den USA waren. Auch das Material der Prothese barg ein Risiko: Es bestand die Gefahr, dass Giftstoffe in den Körper des Patienten wandern. Bei den Prüfern spielten all diese Warnzeichen keine Rolle. Das Ergebnis der britischen Undercover-Recherche: Das notwendige Zertifikat für ihre fiktive Hüfte wäre erteilt worden.

6. Oft werden Geräte implantiert, die kaum oder gar nicht getestet wurden.

Als Patient erfährt man in der Regel nicht, auf welcher Grundlage ein Implantat oder eine Prothese zertifiziert wurde. Die Prüfunternehmen verweisen auf Geschäftsgeheimnisse, und auch die Hersteller selbst sind in der Regel schmallippig. Ein Großteil der Implantate und Prothesen kommt ohnehin ohne klinische Studien oder Tests auf den Markt. Möglich macht dies das sogenannte Äquivalenzprinzip. Danach kann auf Tests und Studien verzichtet werden, wenn bereits ein ähnliches medizinisches Produkt auf dem Markt ist, das irgendwann einmal an Menschen getestet wurde. Von 2020 an können sich Hersteller aufgrund der neuen Medizinprodukteverordnung de facto nur noch auf eigene bereits einmal getestete Produkte beziehen, das generelle Schlupfloch aber bleibt. Auf diese Weise können immer neue Medizinprodukte verkauft werden, ohne an Patienten erprobt zu werden.

7. Die meisten Studien werden von der Industrie finanziert.

Selbst wenn es Studien gibt, sind diese selten unabhängig. Oft haben Ärzte, die daran mitschreiben, finanzielle Verbindungen zum Hersteller des Produkts. Die meisten Studien über Medizinprodukte werden auch von der Industrie selbst finanziert. Hört man sich unter Ärzten um, gibt es zudem offenbar eine unausgesprochene Regel: Studien, die für Hersteller nicht günstig ausgehen, verschwinden. Sie werden nicht auf Konferenzen vorgestellt und ebenso wenig in den bekannten Wissenschaftszeitschriften veröffentlicht.

SZ, NDR und WDR stießen bei den Implant-Files-Recherchen auf den Fall eines Arztes, der an den sogenannten Leitlinien zur Behandlung von Diabetes bei Kindern und Jugendlichen mitgeschrieben hat. Diese Leitlinien dienen anderen Ärzten und Patienten als Orientierung. Das Pikante daran: Der Arzt arbeitet eng mit Herstellern von Insulinpumpen zusammen - jenen Geräten, deren Einsatz er in den Leitlinien empfiehlt. Außerdem ist der Arzt Anteilseigner einer Firma, die Software für Insulinpumpen entwickelt.

8. Wenn etwas schiefläuft, erfahren Patienten davon oftmals nichts.

Oft erfahren Patienten nicht oder erst sehr spät, dass ihr Implantat fehlerhaft ist. Dies liegt daran, dass es kein zentrales Implantatregister gibt. Wenn ein Sicherheitshinweis zu einem Produkt veröffentlicht wird, muss sich der Patient darauf verlassen, dass sein Arzt ihm das auch mitteilt. Zwar gibt es auf der Homepage des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Übersicht über Rückrufe und Warnhinweise - sie erhebt jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Nur in etwa 20 Prozent aller Länder weltweit gibt es nach Recherchen des ICIJ überhaupt öffentliche Datenbanken mit Sicherheitswarnungen und Rückrufen von Medizinprodukten.

9. Die Behörden werden in den seltensten Fällen tätig.

Weder beim Bundesgesundheitsministerium noch beim BfArM ist zu erfahren, welche Produkte in den vergangenen zehn Jahren mit den meisten Todesfällen in Zusammenhang gebracht werden. Dies seien "vertrauliche Informationen". Die Behörden verlassen sich darauf, dass bei Fehlern die Hersteller selbst ihre Geräte zurückrufen oder Sicherheitswarnungen aussprechen. Seit 2010 geschah dies in etwa 10 000 Fällen. Behördlich angeordnet wurde ein Rückruf im gleichen Zeitraum offenbar lediglich sechs Mal: einmal in Baden-Württemberg, zweimal in Niedersachsen, dreimal in Nordrhein-Westfalen.

10. Die Medizinprodukte-Lobby blockiert Veränderung.

EU-Kommission und Teile des Europäischen Parlaments haben sich in den vergangenen Jahren schon mehrmals schärfere Regeln für Medizinprodukte vorgenommen. Zu einem Systemwandel kam es trotz mehrjähriger Verhandlungen aber nicht: Statt einer staatlichen Behörde entscheiden weiterhin Privatunternehmen über die Zertifizierung neuer Medizinprodukte. Ob ein Gerät Patienten wirklich nützt, muss ebenfalls nicht vorher geprüft werden. Dafür sollen die sogenannten Benannten Stellen, also die Prüfunternehmen, nun unangemeldet bei den Herstellern kontrollieren müssen. Als Grund für die weiche Neuregelung nennen viele Parlamentarier die Medizinprodukte-Lobby. Selbst hartgesottene Europa-Parlamentarier sprechen von Einflussnahme in einem bislang nicht da gewesenen Ausmaß.

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