Großbritannien:Ein Justizskandal und seine Folgen

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Alan Bates nahm den Kampf gegen die Post auf - hier ist er am Rande der Dreharbeiten zu der Serie zu sehen, die derzeit im britischen Fernsehen über ihn läuft. (Foto: mauritius images)

Jahrelang zerstörte das fehlerhafte Computersystem "Horizon" Existenzen, die Post aber glaubte lieber dem System als ihren Angestellten. Und sie vertuschte, was zum größten Skandal der britischen Justiz geworden ist. Jetzt ermittelt die Polizei.

Von Michael Neudecker, London

Horizon ist ein schwarzer Kasten und hat kleine Lämpchen, die bedrohlich blinken, unaufhörlich. Horizon sieht gruselig aus, wie böse künstliche Intelligenz, die die Kontrolle über den Menschen übernimmt. Jedenfalls in der Fernsehserie, die derzeit im britischen Fernsehen auf ITV ausgestrahlt wird, über die britische Post, deren Computersystem Horizon und verzweifelt um ihre Existenz kämpfende Postangestellte: vier Folgen über nichts weniger als den wohl größten Justizskandal der britischen Geschichte.

"Mr Bates vs The Post Office", so heißt die Serie, es geht darin um den realen Kampf des inzwischen 69-jährigen Alan Bates gegen eine der größten und mächtigsten nationalen Institutionen des Königreichs, die Post. Es geht darum, wie die Post jahrelang einem defekten Computersystem vertraute, Angestellte entließ, in den Bankrott trieb und manche ins Gefängnis, und wie sich die Postangestellten seit zwanzig Jahren versuchen zu wehren. Mindestens vier von ihnen begingen Suizid.

Investigativteams der britischen Medien, darunter der BBC und der Sunday Times, veröffentlichten in den vergangenen Jahren zwar gelegentlich neue Erkenntnisse zum "Post-Skandal", am Montagabend befasste sich auch das Unterhaus damit, nicht zum ersten Mal. Erst die Fernsehserie aber bringt dem Thema nun nationale Aufmerksamkeit.

Die Geschichte beginnt mit einem Software-Auftrag im Jahr 1996

Alles beginnt im Jahr 1996, als die Tory-Regierung von John Major dem japanischen Konzern Fujitsu den Auftrag erteilt, das Computersystem Horizon für die Post aufzubauen. Die Post im Vereinigten Königreich ist staatlich, die einzelnen Poststellen werden von selbständigen "Sub-Postmasters" betrieben. In ihrem Vertrag mit der Post ist geregelt, dass sie selbst verantwortlich sind für die korrekte Durchführung und Abrechnung der Post-Geschäfte - Horizon soll den Vorgang automatisieren. 1999 nimmt die Labour-Regierung von Tony Blair die neue Fujitsu-Software ab und beschließt damit den größten staatlichen Auftrag außerhalb des Verteidigungsministeriums.

1998 kauft Alan Bates eine Poststelle in Craig-y-Don in Nordwales, er investiert umgerechnet etwa 75 000 Euro. Fünf Jahre später zwingen ihn Prüfer der Post, den Laden zu schließen: Horizon hat festgestellt, dass seine Buchführung ein Defizit von 1200 Euro aufweist. Bates weigert sich, die vom System automatisch erstellten Dokumente zu unterschreiben, die die Differenz zwischen Soll und Haben aufweisen - das rettet ihn letztlich vor einer Strafverfolgung. Andere aber unterschreiben das Dokument, in der Sorge, ihren Laden schließen zu müssen. Viele von ihnen bitten die Post um Hilfe, die Post aber vertraut derart auf die Unfehlbarkeit von Horizon, dass mehr und mehr Poststellen geschlossen und "Sub-Postmaster" verklagt werden. Die Summen, die sie laut Horizon der Post schulden, gehen teils in den hohen fünfstelligen Bereich.

In ihrer Verzweiflung bekannten sich einige Postangestellte schuldig

In Wales sucht Alan Bates nach ähnlichen Fällen, er findet schließlich Hunderte im ganzen Königreich. Mit der Unterstützung des Tory-Abgeordneten James Arbuthnot beginnen Bates und die anderen, gegen die Post vorzugehen. Die Post aber verschleiert, verzögert und hält an Fujitsu und Horizon fest. Die zuständigen Staatssekretäre - unter ihnen der heutige Chef der Liberaldemokraten, Ed Davey - glauben eher der Post als Bates und dessen Ex-Kollegen. Und Fujitsu bekommt über die Jahre immer wieder Regierungsaufträge, das Gesamtvolumen beläuft sich inzwischen auf 7,8 Milliarden Euro. Horizon ist bis heute in Betrieb.

Gab jetzt ihren Orden zurück: die frühere Post-Chefin Paula Vennells. (Foto: Rob Pinney/imago)

Gleichzeitig hat die Post eine Sonderstellung, die auf das 17. Jahrhundert zurückgeht: Sie darf selbst die Strafverfolgung vornehmen. Mehrere Postangestellte werden im Laufe der Jahre vor Gericht gebracht, wegen Diebstahls, Betrugs oder Unterschlagung, einige bekennen sich in der Verzweiflung schuldig, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Zwischen 1998 und 2015 werden mehr als 700 Postmaster von britischen Gerichten verurteilt. Die Summen, die sie der Post angeblich schulden, sind oft so hoch, dass Existenzen zerstört werden.

Erst 2019 urteilt der Oberste Gerichtshof in einem Prozess, in dem Bates zusammen mit 555 Betroffenen die Post verklagt, dass Horizon fehlerhaft sei. Der zweijährige Prozess endet mit einer außergerichtlichen Einigung, die Post zahlt 67 Millionen Euro - nach Abzug der Anwaltskosten für jeden Einzelnen ein Bruchteil des verlorenen Geldes.

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Inzwischen laufen mehrere Ermittlungen, unter anderem auch eine der Metropolitan Police gegen die Post. Im September vergangenen Jahres wurde im Unterhaus beschlossen, jedem Postmaster, dessen Urteil zurückgenommen wird, eine Entschädigung von 700 000 Euro zu bezahlen. Bisher waren aber lediglich 97 Betroffene vor Gericht erfolgreich im Kampf gegen ihre Verurteilung, weshalb die Regierung von Rishi Sunak nun zunehmend unter Druck gerät. Am Dienstagvormittag, beim wöchentlichen Kabinettstreffen in Downing Street, war der Post-Skandal offenbar wichtigster Tagesordnungspunkt. Am Nachmittag sagte Justizminister Alex Chalk im Unterhaus, ein Gesetz in Erwägung zu ziehen, das alle im Postskandal Verurteilten freispricht und entschädigt.

Paula Vennells, die damalige Chefin der Post, die trotz ihrer umstrittenen Rolle im Post-Skandal Boni in Millionenhöhe verdiente, wurde 2019 - kurz vor ihrem Rücktritt - für ihre Verdienste als Commander (CBE) in den "Most Excellent Order of the British Empire" aufgenommen. Am Dienstag gab sie auf großen öffentlichen Druck hin bekannt, ihre Mitgliedschaft in dem Ritterorden unverzüglich aufzugeben.

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