Holocaust-Gedenktag: Wulff in Auschwitz:Umarmung an der Todesmauer

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Zwischen Diplomatie und Gefühlen: Obwohl er mit seiner Rede nicht beeindruckte, gelang Bundespräsident Wulff in Auschwitz ein bemerkenswerter Auftritt. Von dieser Reise werden keine Worte bleiben, sondern eine Geste.

Nico Fried

Es ist kurz nach sieben Uhr am Morgen. Christian Wulff sitzt in einem kargen Raum im militärischen Teil des Berliner Flughafens Tegel. Der Bundespräsident trägt einen schwarzen Anzug. Er sagt, dies werde "ein schwieriger Tag". Es ist der 27. Januar, der Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, seit 1996 der nationale Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus'.

Bundespräsident Christian Wulff mit Polens Präsident Bronislaw Komorowski (r.) im Konzentrationislager Auschwitz. (Foto: dapd)

Christian Wulff wird gleich nach Krakau fliegen und dann nach Auschwitz fahren. Für einen deutschen Präsidenten, sagt Wulff ein wenig hölzern, werde an diesem Tag sicher "Scham im Vordergrund stehen". Auschwitz sei vielleicht der schwierigste Ort, an den man sich als Deutscher begeben könne.

Er selbst war noch nie dort. Als Ministerpräsident hat er sich vor allem um die Stätten der Erinnerung in Niedersachsen gekümmert, Bergen-Belsen zum Beispiel. Als Bundespräsident ist er jetzt gewissermaßen für die ganze deutsche Geschichte zuständig. Überall.

Man kann nicht sagen, dass Wulff dieser Aufgabe aus dem Weg ginge. Seine erste große Reise, die er nicht von seinem plötzlich zurückgetretenen Vorgänger Horst Köhler übernommen hatte, führte ihn nach Israel und in die Gedenkstätte Jad Vaschem. Mit seinem polnischen Kollegen Bronislaw Komorowski besuchte er das frühere KZ Sachsenhausen, wo die Nazis vor allem polnische Intellektuelle töteten. Und jetzt Auschwitz.

In Israel, wo mittlerweile einige deutsche Politiker Reden gehalten haben, auch Bundespräsidenten, hat Wulff bei seinem ersten Besuch nicht gesprochen. In Auschwitz, wo Roman Herzog und Horst Köhler geschwiegen haben, wird Wulff als erster Bundespräsident reden. Noch besteht die Rede aus mehreren gelben Karten, auf denen in großen Buchstaben die Sätze stehen. Er hat sie vor sich liegen. An vielen Stellen sind Striche und Notizen, Wulff hat offenbar bis zuletzt daran gearbeitet.

Er wird sagen, das Leid der Opfer sei unfassbar, unsagbar, unbeschreiblich. "Und dennoch muss es immer wieder erfasst, gesagt und auch beschrieben werden." Der Name Auschwitz stehe wie kein anderer für die Verbrechen Deutscher an Millionen von Menschen. "Wir tragen hieraus eine historische Verantwortung, die unabhängig ist von individueller Schuld."

Wahrscheinlich kann ein Bundespräsident nie und nirgends mehr falsch machen als an diesem schwierigen Ort, an diesem schwierigen Tag. Es fehlt nichts in Wulffs Rede, es ist aber auch kein wirklich beeindruckender Gedanke drin. In Erinnerung bleiben werden von dieser Reise deshalb keine Worte, sondern eine Geste. Und diese Geste hat mit Dieter Graumann zu tun.

"Die Hand zur Versöhnung reichen"

Graumann begleitet den Präsidenten. Auch er war noch nie in Auschwitz, er war überhaupt noch nie in einem Vernichtungslager. Graumann, Jahrgang 1950, hatte bisher nicht die Kraft, an die Orte zu reisen, wo viele seiner Verwandten ermordet wurden. In Auschwitz starben die Eltern seiner Mutter und die Großeltern seiner Frau. Graumann ist der neue Präsident des Zentralrats der Juden. Wulff sagt, er sei den Hinterbliebenen dankbar, dass sie "die Hand zur Versöhnung reichen". Und er wird darauf später mit einer Geste antworten.

Auschwitz. Es ist kurz vor elf Uhr. Wulff und Komorowski steigen jetzt erst einmal auf ein Podium und nehmen auf zwei Stühlen Platz, ein gelbes Blumenbukett zwischen sich. Die Präsidenten treffen in der Jugendbegegnungsstätte auf Überlebende des KZ, aber auch auf Jugendliche, die hier in Seminaren und Begegnungen lernen, was damals geschah. Seit 25 Jahren gibt es diese Begegnungsstätte. 1,3 Millionen Menschen sind seither hier gewesen. Sie sind zum Beispiel August Kowalczyk begegnet, der in diesem Jahr 90 wird. Eineinhalb Jahre war er in Auschwitz, dann gelang ihm die Flucht. Später wurde er Schauspieler, spielte in mehreren Filmen SS-Schergen. Kowalczyk trägt die Häftlingsnummer 6804. So viele junge Menschen will er treffen, um ihnen von damals zu erzählen. Mehr als 6000 hat er schon getroffen.

Wulff wird auf dem Podium gefragt, wie er vom Holocaust erfahren habe. Er erzählt, dass in seiner Jugend in Osnabrück neben seiner katholischen Kirchengemeinde auch die jüdische Gemeinde war. In der ganzen Umgebung habe sie aber kaum Mitglieder gehabt. "Da stellte sich die Frage, was hier geschehen ist."

Komorowski erzählt nicht vom Holocaust. Er berichtet aus seiner Kindheit, "dass wir unten im Hof immer Krieg gespielt haben". Mit den Freunden habe man darüber gesprochen, welche Familie mehr Leid erfahren habe. Und eines Tages habe er seinen Vater gefragt, wie viele deutsche Soldaten er getötet habe. Er hoffe, so soll sein Vater geantwortet habe, "dass ich keinen getötet habe".

Diplomatisch, aber nicht ausweichend

Es geht eben nicht nur um das deutsch-jüdische Verhältnis an diesem Tag, sondern auch um das deutsch-polnische. Ein junger Mann fragt nach Erika Steinbach, der Vertriebenenpräsidentin, und ihrer Ausstellung, in der das Leid der vertriebenen Polen verschwiegen werde, wie der junge Mann sagt. Wulff antwortet, dass man Frau Steinbach differenziert sehen müsse. Sie habe Positionen vertreten, denen er selbst widersprochen habe. Aber sie vertrete auch das Interesse der Vertriebenen, die einen Anspruch darauf hätten, dass das Unrecht, das ihnen widerfahren sei, nicht in Vergessenheit gerate. Es ist ein bemerkenswert sicherer Auftritt, den Wulff da hinlegt, diplomatisch, aber nicht ausweichend.

Um 13.05 Uhr geht Wulff durch das Tor zum Stammlager Auschwitz. Über ihm der geschwungene Schriftzug "Arbeit macht frei". Es ist nicht das Original, das im Dezember 2009 gestohlen und zersägt worden war. Dann steht Wulff vor der Todesmauer, an der Häftlinge mit Genickschuss getötet wurden. Plötzlich umarmt er Dieter Graumann, der neben ihm steht. Und er umarmt Romani Rose, den Vertreter der Sinti und Roma. Es ist eine berührende Berührung.

Dieter Graumann sagt später, er habe Wulffs Umarmung als gute Geste empfunden. Dann begibt er sich mit dem deutschen Staatsoberhaupt zum Vernichtungslager Birkenau. Hier sind seine Verwandten getötet worden. Nach allem, was er weiß, wurden sie nach der Ankunft direkt ins Gas geschickt.

© SZ vom 28.01.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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