Historiker zur Schuldfrage im Ersten Weltkrieg:Seltsam verdrehte Debatte

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Wer setzte all die Soldaten in Gang? Die Frage um die Schuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg ist erneut entbrannt. (Foto: Englische Truppen an der Westfront) (Foto: Sueddeutsche Zeitung Photo)

Christopher Clark und andere Historiker liefern neue Interpretationen zur Entstehung des Ersten Weltkriegs. Doch wer ihre Thesen überzeugend findet, gerät in Deutschland unter Verdacht, dunkle Motive zu verfolgen.

Gastbeitrag von Dominik Geppert

Zu den Überraschungen des Gedenkjahrs 2014 gehört die Giftigkeit, mit der die uralte Frage der Schuld am Ersten Weltkrieg wieder aufgekocht wird. Mittlerweile stehen einige hässliche Vorwürfe im Raum: Nationalismus, Geschichtsklitterung, das Schüren antieuropäischer Ressentiments, Verharmlosung des Nationalsozialismus.

Wo Belege für diese angeblichen Vergehen fehlen, wird mit Unterstellungen und dunklen Andeutungen gearbeitet. Heute gehe es um 1914, insinuierte Heinrich August Winkler jüngst in der Zeit, morgen um 1939.

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Dabei fing alles harmlos an. Seit rund 20 Jahren haben Historiker in Deutschland und anderswo unser Bild der Welt vor 1914 erweitert, differenziert, teils auch revidiert. Sozial- und kulturgeschichtliche Ansätze kamen zum Tragen, vor allem aber eine erneuerte Diplomatiegeschichte, die sich nicht mehr nur auf Haupt- und Staatsaktionen konzentriert, sondern zu einer methodisch flexibleren Internationalen Geschichte gemausert hat.

Wie Clarks Position verdächtig wurde

Im vergangenen Herbst und Winter erschienen dann in deutscher Sprache drei vorzügliche Werke zur Vorgeschichte und zum Verlauf des Ersten Weltkriegs. Christopher Clark aus Cambridge, der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler und der Freiburger Historiker Jörn Leonhard bilanzierten souverän den Stand der Forschung, setzten eigene Akzente und stießen auf enormes öffentliches Interesse. Clarks "Schlafwandler" avancierte zum Bestseller, den Fachleute als eine "Wucht" (Gerd Krumeich) rühmten.

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Einige Monate später kippte die Stimmung in der Historikerzunft. Der am 5. Juli verstorbene Bielefelder Emeritus Hans-Ulrich Wehler wollte einen "zielstrebigen Versuch" Clarks erkannt haben, den deutschen Anteil am Krieg zu "verwischen" und die deutsche Politik "zu beschönigen".

Der deutsch-englische Historiker John Röhl erklärte, es werde ihm "mulmig" bei der Vorstellung, dass sich in vielen Köpfen der Eindruck von der "Unschuld der Reichsregierung im Juli 1914" festsetzen könne. Als Tenor der Kritik schälte sich heraus, ein geschäftstüchtiger Ausländer rede einem deutschen Massenpublikum nach dem Munde, das danach lechzte, von der Kriegsschuld frei gesprochen zu werden.

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Auch die jüngeren Historiker, die - wie ich selbst - Clarks Studie weiter für gelungen hielten, gerieten in die Kritik. Man verdächtigte uns, auf ein Erfolgsprojekt aufzuspringen und es für geschichtspolitische Zwecke zu missbrauchen. Rasch war das Etikett des Nationalismus zur Hand.

Andreas Wirsching, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, äußerte in dieser Zeitung die Befürchtung, Clarks Thesen könnten für unlautere Exkulpationsabsichten "instrumentalisiert" werden, um deutschem "Selbstmitleid" neue Nahrung zu geben und die Deutschen zu "entlasten". Winkler konstatierte gar eine "Umdeutung der Geschichte in volkspädagogischer Absicht".

Wie ist dieser seltsame Debattenverlauf zu erklären? Ein Grund mag die Verblüffung einiger Verächter der Politikgeschichte sein, wie produktiv und relevant dieser Forschungszweig ist, der in Deutschland lange als überholt galt. Es ist ja nicht so, dass es keine Versuche gegeben hätte, den Kriegsbeginn strukturgeschichtlich zu erklären. Diese Unternehmungen haben jedoch nicht weit geführt.

Um zu verstehen, wieso der Große Krieg im Sommer 1914 ausbrach und nicht schon 1911 oder erst 1916 (oder gar nicht), muss man das Denken und Handeln von knapp hundert Politikern, Diplomaten und gekrönten Häuptern an den Schalthebeln der Macht untersuchen.

Zudem stammten einige besonders vollmundige Stellungnahmen von Wissenschaftlern, die zwar zu den renommiertesten deutschen Neuzeithistorikern gehören, sich aber selten selbst intensiver mit den Großmächtebeziehungen vor 1914 beschäftigt haben (womöglich eben weil sie dieses Thema für vorgestrig halten). Viele sind Spezialisten für die deutsche Nationalgeschichte, die neuere Erkenntnisse zu anderen kriegführenden Mächten kaum in ihre Kritik einbeziehen.

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Die Ergebnisse der jüngeren Forschung spielen in der gegenwärtigen Debatte jedenfalls fast keine Rolle. Nur so ist zu erklären, dass Clarks und Münklers Verteidigern unterstellt wird, sie fühlten sich durch deren Erfolg "ermutigt" (Winkler), ähnliche Positionen zu beziehen. In Wahrheit hatten viele von ihnen ihre Thesen seit Jahren, also vor Clark und Münkler, in Monografien und Aufsätzen zur Diskussion gestellt.

Aber es geht Kritikern wie Winkler und Wirsching gar nicht um den Forschungsstand in der Internationalen Geschichte. Es geht um die Rolle des Deutschen Reiches. Dabei ist zunächst nicht leicht zu erkennen, worin der Dissens eigentlich besteht. Kaum jemand ist so dumm, von einer deutschen "Alleinschuld" zu sprechen. Umgekehrt wird kein ernstzunehmender Historiker bestreiten, dass die Reichsleitung ein gerüttelt Maß Verantwortung für die Eskalation der Julikrise trug.

Überkommenes Reiz-Reaktions-Schema

Entscheidend ist, welches Handlungsmuster man der Julikrise unterlegt. Die Verfechter der überkommenen Sichtweise gehen von einem Reiz-Reaktions-Schema aus: Die Protagonisten in Berlin (und Wien) agierten, und in den anderen europäischen Hauptstädten konnte man danach nur noch in einer bestimmten Weise, nämlich mit der gebotenen Gegenwehr, antworten. Das Reich wäre dann, um ein Bild John Röhls zu verwenden, der Fixstern im Sonnensystem der europäischen Staatenwelt, um den die anderen Mächte wie Planeten auf ihren vorgegebenen Bahnen kreisten.

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Neuere Studien weisen Deutschland kaum noch einen derart herausgehobenen Platz zu. Sie bevorzugen den Blick in verschiedene Richtungen, der vor einer Überbetonung der deutschen Rolle im Guten wie im Schlechten schützt. Sie verweisen auf Vorgeschichten der historischen Zusammenhänge, die nicht durch Berlins Politik bestimmt waren. So betrachtet, genügt es nicht, der deutschen Führung finstere Absichten nachzuweisen. Man muss auch belegen, dass die anderen Staaten tatsächlich auf diese Politik reagierten und nicht etwa unabhängig davon eigene Interessen verfolgten.

Genau hier hat die jüngere Forschung am meisten Boden gut gemacht und eingelöst, was Fritz Fischer mit Blick auf die Kriegszieldiskussion bereits vor 50 Jahren angemahnt hatte: nämlich seinen eigenen Werken über Deutschland Einzelstudien zu den anderen Krieg führenden Mächten folgen zu lassen.

In Sankt Petersburg etwa versprach man sich von einem großen europäischen Krieg nicht zuletzt den Zugriff auf Konstantinopel und die Meerengen. Für Frankreich hatte ein Krieg, der vom Balkan ausging, den Vorzug, dass der russische Bündnispartner darin mit größerer Sicherheit involviert sein würde als in einer Neuauflage der Kolonialkonflikte um Marokko. Die britische Führung erwartete weniger Nachteile für ihre Stellung in der Welt, wenn sie an einem großen europäischen Krieg teilnahm, als wenn sie auf eine Intervention an der Seite Frankreichs und Russlands verzichtet hätte.

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Diese anderen Vorgeschichten in das Gesamtbild einzubeziehen, ist nicht "nationalapologetisch", wie mir und anderen vorgeworfen wird, sondern wissenschaftliche Redlichkeit. Wer hingegen fordert, der Fokus auf das Deutsche Reich müsse aus Gründen politischer Zweckmäßigkeit aufrecht erhalten bleiben, betreibt Geschichtsschreibung in volkspädagogischer Absicht.

Wenn in dieser Debatte der Vorwurf nationaler Verengung angebracht ist, dann für den methodischen Nationalismus, der einer solchen Betrachtungsweise zugrunde liegt und die Perspektiven anderer Nationen vernachlässigt.

Der Kern der Kontroverse ist nicht wissenschaftlicher, sondern geschichtspolitischer Natur. Die naheliegende Frage, ob die neuen Interpretationen stichhaltiger sind als die alten, wird von den meisten Kritikern kaum berührt. Stattdessen fragen sie seltsam verdreht, welche sinisteren Motive dafür aufzuspüren sind, dass eine überzeugende Erklärung eines Fundamentalereignisses der europäischen Geschichte in Deutschland großen Erfolg hat.

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Das bedeutet nicht, dass sich die neuen Deutungen losgelöst von aktuellen Bezügen in einer Sphäre zeitloser wissenschaftlicher Gültigkeit bewegen. Sie sind - wie jede Geschichtsschreibung - Kinder ihrer Zeit. Das Ende des Kalten Krieges und der Übergang von einem bipolaren zu einem stärker multipolar ausgerichteten, global dimensionierten Staatensystem haben den Blickwinkel verändert.

Diese Verschiebung der Sichtachsen hat etwa den Effekt, dass der deutsch-britische Antagonismus vor 1914, den Historiker nach 1945 immer auch im Lichte des Ost-West-Gegensatzes gedeutet haben, uns heute weniger umtreibt. Hingegen werden die regionalen Ursprünge des Ersten Weltkrieges auf dem Balkan aufgrund der Erfahrungen des Bürgerkrieges in den 1990er Jahren genauer beleuchtet.

Die Welt vor 1914 wird in vielen neueren Werken nicht mehr als überwundene "schlechte" Vergangenheit im Gegensatz zu einer besseren, klügeren und moralisch überlegenen Gegenwart dargestellt. Vielmehr erhalten diese Studien gerade dadurch ihren Reiz, dass sie die Ähnlichkeiten mit unseren Tagen akzentuieren und uns als "Erben dieses Krieges" (Leonhard) beschreiben.

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Die Jahre vor 1914 treten uns als eine Epoche forcierter Globalisierung und Modernisierung entgegen, als eine Zeit großer europäischer Krisen, in der es Selbstmordattentäter und Terroranschläge gab. Damit erleben wir anstatt eines Verfremdungseffekts die relative Vertrautheit einer eigentlich doch recht fernen Vergangenheit.

Welche Schlussfolgerungen daraus für die Gegenwart gezogen werden (von der europäischen Einigung über die Ukrainekrise bis hin zu internationalen Einsätzen der Bundeswehr), darüber lohnt es sich, historisch informiert politisch zu streiten. Diesen Streit unter Hinweis auf ein falsches Geschichtsverständnis abzuschneiden, ist illiberal und kurzsichtig.

Alles in allem, so scheint mir, haben die sogenannten Revisionisten weniger Grund zur Selbstrevision als ihre Kritiker.

Der Autor Dominik Geppert lehrt an der Universität Bonn Neuere und Neueste Geschichte.

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Kommentar von Heribert Prantl
© SZ vom 25.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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