Annika Mombauer zählt zu den international besten Kennern der Julikrise von 1914, die im Ersten Weltkrieg mündete. Die deutsch-britische Historikerin ist Senior Lecturer an der Open University in Milton Keynes. Zuletzt erschien von ihr das Buch "Die Julikrise - Europas Weg in den Ersten Weltkrieg" (C.H.Beck).
SZ: Frau Mombauer, war der Krieg nach dem Mord an Österreichs Thronfolger Franz Ferdinand in Sarajevo noch zu verhindern?
Annika Mombauer: Mit Sicherheit. Gleich nach dem Attentat stellten die Spitzen Österreich-Ungarns fest, dass man ohne die Rückendeckung der Deutschen leider keinen Krieg gegen Serbien führen könne. Die erfolgte dann Anfang Juli, als Kaiser Wilhelm II. Wien den berühmten "Blankoscheck" gab: die freie Hand für das weitere Vorgehen. Ohne diese wäre gar kein Krieg denkbar gewesen.
Wollte Österreich-Ungarn unbedingt Krieg?
Wien wollte den lästigen serbischen Rivalen in einem kleinen Krieg loswerden. Deutschland war bereit, einen anderen, größeren Krieg gegen Frankreich und gegen Russland zu riskieren. Nach Kriegsbeginn war den Deutschen der kleine Krieg der Österreicher egal. In einem Telegramm vom 31. Juli 1914 teilte Wilhelm II. dem österreichischen Kaiser Franz Joseph I. sinngemäß mit: Priorität hat jetzt ein Sieg über Frankreich, deshalb müsse Wien seine Truppen erst mal nicht gegen Serbien, sondern gegen Russland marschieren lassen, um uns den Rücken freizuhalten. Die Verantwortung Deutschlands und Österreich-Ungarns am Krieg ist sehr groß.
Hat der Historiker Christopher Clark mit der Aussage recht, dass auch andere Großmächte die Eskalation im Sommer 1914 forciert haben?
Clark sagt nicht, dass die Deutschen unschuldig seien. Aber sein Buch "Die Schlafwandler" wird von vielen Deutschen so verstanden. Es ist gut, dass Clark zeigt, welche Entscheidungen damals in Russland, Frankreich und Serbien getroffen worden sind. Es gab auch dort ein paar "Bösewichte". Aber sie wirkten eben nicht zu Beginn der Julikrise, sondern erst später - als die Mittelmächte die Weichen für den Krieg bereits gestellt hatten.
Sie widersprechen also Clarks These, wonach alle europäischen Mächte gleich viel Schuld am Kriegsausbruch tragen?
In der Hinsicht liegt Clark falsch. Mir wäre es lieber gewesen, die "Schlafwandler" wären 50 Seiten länger gewesen, um die verhängnisvolle Dynamik aufzuzeigen, die sich während der Julikrise in Deutschland und Österreich-Ungarn entwickelte. Aber viele der Dokumente, die belegen, was in Berlin und Wien passierte, kommen bei Clark leider zu kurz.
Was belegen diese Dokumente?
Wie die Entscheidungsträger in Wien und Berlin nach dem Attentat von Sarajevo die Eskalation der Julikrise mit voller Absicht provoziert haben. Diese Krise existierte, weil Wien Krieg gegen Serbien führen wollte und Berlin bereit war, volles Risiko einzugehen. Entsprechende Überlegungen sind schriftlich dokumentiert. Es existieren Beweise ohne Ende. Die deutsche Führung war bereit für den großen Krieg und wusste schon lange: Es muss eine Krise auf dem Balkan sein, die den europäischen Krieg auslöst - ansonsten wird Österreich-Ungarn nicht mitziehen.