Heinrich "Heiner" Geißler, Jahrgang 1930, prägte die deutsche Politik über Jahrzehnte mit: Als Landesminister in Rheinland-Pfalz, als Bundestagsabgeordneter, Bundesminister, vor allem aber als Helmut Kohls Statthalter in der CDU-Zentrale zog der promovierte Jurist die Strippen. Für SPD und Grüne gab der CDU-Generalsekretär (1977-89) das Feindbild schlechthin ab. Nach dem Bruch mit Kohl häutete sich Geißler, wobei er meint, dass sich nur die öffentliche Wahrnehmung veränderte, es trifft wohl von beidem etwas zu: Früh warb er für schwarz-grüne Bündnisse, er erkannte die Integrationsproblematik vor anderen und trat bei den Globalisierungskritikern von Attac bei. Inzwischen genießt der Christdemokrat Heiner Geißler Ansehen im linken Lager, seine Schlichtungsarbeit bei Stuttgart 21 wurde von beiden Seiten gelobt.
Früher Helmut Kohls Abteilung Attacke, heute Befürworter schwarz-grüner Koalitionen: Christdemokrat Heiner Geißler
(Foto: picture alliance / dpa)sueddeutsche.de: Herr Geißler, die Bahn stoppt die Arbeiten am Stuttgarter Hauptbahnhof. Ist das aus Ihrer Sicht nun die Wende in der Causa Stuttgart 21?
Heiner Geißler: Wenn die Bahn einen Baustopp verfügt, dann ist es okay. Als Bauherrin hat sie schließlich das Baurecht. Im Endeffekt macht die Bahn nichts anderes, als während der Schlichtung auch.
sueddeutsche.de: Glauben Sie, dass sich am Prozedere, das in der Schlichtung festgelegt wurde, etwas ändert?
Geißler: Was sollte sich ändern? Der Stresstest und die übrigen bei der Schlichtung vereinbarten Maßnahmen bleiben davon unberührt.
sueddeutsche.de: Die Bahn reagiert mit Ihrem Baustopp auf den anstehenden Regierungswechel in Stuttgart. Herr Geißler, Sie stammen aus Baden-Württemberg. Können Sie in wenigen Sätzen erklären, was am Sonntag in Ihrer Heimat passiert ist?
Geißler: Die CDU hat eine verheerende Niederlage erlitten. Wobei das Verheerende vor allem darin besteht, dass die CDU nicht mehr regiert, obwohl das möglich gewesen wäre.
sueddeutsche.de: Worauf spielen Sie an?
Geißler: Es gäbe eine Mehrheit für Schwarz-Grün. Doch diese Konstellation wurde leider von vornherein abgeblockt - von beiden Seiten.
sueddeutsche.de: Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel nannte schwarz-grüne Konstellationen "Hirngespinste".
Geißler: Es war schon immer ein Denkfehler, sich stoisch auf einen Polit-Partner festzulegen. Das ist erst recht nicht besonders intelligent, wenn dieser Partner FDP heißt.
sueddeutsche.de: Die Freidemokraten schafften in Baden-Württemberg knapp die Fünf-Prozent-Hürde, in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz sind sie künftig außerparlamentarische Opposition. Rechnen Sie mit einer Revitalisierung?
Geißler: Bei den Freien Demokraten weiß man nicht, ob sie als politische Kraft noch leben oder im Grunde genommen schon verschieden sind. In der öko-sozialen Markwirtschaft und der lebendigen Bürgergesellschaft ist kein Platz für Westerwelles FDP. Sie wird als Partei nicht mehr gebraucht. Der echte politische Liberalismus lebt längst in der CDU und bei den Grünen weiter. Aber mich sorgt in erster Linie die Situation der Union. Denn nun haben wir die Bescherung: Die CDU ist nicht koalitionsfähig, weil ihr der Bündnispartner fehlt.
sueddeutsche.de: Knackpunkt zwischen Schwarzen und Grünen ist die Kernkraft.
Geißler: Das war die unüberwindbare Hürde zwischen CDU und Grünen, richtig. Die Union hat im Schlepptau der Liberalen und der Stromindustrie gegen den Rat des eigenen Umweltministers die Laufzeit der Meiler verlängert. Das war so unnötig wie falsch.
sueddeutsche.de: Sollte Angela Merkel ihre Nibelungentreue zur Westerwelle-FDP überdenken?
Geißler: Denken sollte man immer, aber zu Schwarz-Gelb gibt es derzeit nur die Alternative große Koalition.
sueddeutsche.de: Oder Neuwahlen, so wie 2005, als der SPD ihr Herzland Nordrhein-Westfalen verlorengegangen war.
Geißler: Wir können doch nicht jedes Mal, wenn der Kanzlerpartei eine Landtagswahl verlorengeht, den Bundestag auflösen. Das wäre auch eine Missachtung der Bürger, die das Parlament nun mal für vier Jahre gewählt haben. Die Kanzlerin muss natürlich dafür sorgen, dass das Regierungshandeln maßgeblich von der CDU bestimmt wird und nicht von neoliberalen Vorstellungen in der Energie-, Sozial- und Wirtschaftspolitik.