Bandenkriminalität:Haiti verhängt den Ausnahmezustand

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Hilfloser Staat: Brennende Autoreifen in der Nähe des Hauptgefängnisses in Port-au-Prince, Haiti. (Foto: LUCKENSON JEAN/AFP)

Nach Angriffen bewaffneter Gangs auf Gefängnisse des Landes ist Häftlingen eine Massenflucht gelungen. Wie die Regierung in Port-au-Prince versucht, die Kontrolle zurückzugewinnen.

Angesichts einer dramatischen Eskalation der Gewalt hat die Regierung von Haiti einen mindestens dreitägigen Ausnahmezustand ausgerufen und eine nächtliche Ausgangssperre für die Hauptstadt Port-au-Prince verhängt. Bei einem Angriff auf die beiden größten Gefängnisse des Landes hatten bewaffnete Banden in der Nacht zum Sonntag Hunderten Inhaftierten die Flucht ermöglicht. Der Ausnahmezustand soll zunächst für 72 Stunden gelten und kann verlängert werden, erklärte die haitianische Regierung am Sonntagabend, Ortszeit. Die Ausgangssperre ist in der Nacht mit sofortiger Wirkung in Kraft getreten und soll jeweils von 18 Uhr bis fünf Uhr morgens andauern.

Die Regierung erklärte, sie wolle mit diesem Schritt die Situation unter Kontrolle bringen und die öffentliche Ordnung wiederherstellen. "Die Ordnungskräfte wurden angewiesen, alle ihnen zur Verfügung stehenden legalen Mittel einzusetzen, um die Ausgangssperre durchzusetzen und alle, die sich widersetzen, festzunehmen", erklärte Finanzminister Patrick Boisvert, der in Abwesenheit von Ariel Henry als geschäftsführender Ministerpräsident agiert. Die nationale Polizei werde alles daransetzen, die entflohenen Gefangenen aufzuspüren und die Verantwortlichen für die kriminellen Handlungen sowie deren Komplizen festzunehmen, heißt es in einer Pressemitteilung der haitianischen Regierung.

Aufruf eines mächtigen Bandenführers

Bewaffnete Gruppen hatten am Samstag das Nationalgefängnis in Port-au-Prince angegriffen. Die Polizei konnte sie nicht daran hindern, eine große Anzahl von Gefangenen zu befreien, die unter anderem wegen Entführung, Mord und anderen Straftaten inhaftiert waren. Wie viele Häftlinge geflohen sind, blieb zunächst unklar: Die Regierung machte dazu keine offiziellen Angaben, Zahlen in den Medien variieren von Hunderten bis nahezu allen 3700 Inhaftierten. Es handele sich vermutlich um eine "überwältigende" Mehrheit, zitierte die Nachrichtenagentur Reuters Quellen, die mit der Lage vertraut sind.

Die Bandengewalt war in den vergangenen Tagen erneut eskaliert, nachdem der mächtige Bandenführer Jimmy Chérizier die kriminellen Gruppen aufgerufen hatte, sich zusammenzuschließen, um Premierminister Henry zu stürzen. Mit schweren Schießereien legten sie von Donnerstag an das öffentliche Leben in weiten Teilen von Haitis Hauptstadt lahm. Bei den Angriffen vom Wochenende wurden mehrere Menschen verletzt, auch Tote soll es unter den Polizisten und dem Gefängnispersonal gegeben haben.

Augenzeugen berichteten von einem Dutzend Leichen in der Nähe des Gefängnisses von Port-au-Prince. Ob aus der zweitgrößten Haftanstalt in Croix-des-Bouquets ebenfalls Gefangene flüchten konnten, hat die haitianische Regierung nicht mitgeteilt.

Henry führt die Regierungsgeschäfte seit 2021 übergangsmäßig. Er war in der vergangenen Woche nach Kenia gereist, um die Entsendung einer internationalen Polizeieinheit voranzutreiben, die die Lage in dem krisengeschüttelten Karibikstaat stabilisieren soll. Nach monatelangen Verhandlungen unterzeichneten Vertreter beider Länder am Freitag ein entsprechendes Abkommen. Die kenianische Regierung will demnach 1000 Polizeibeamte zum Kampf gegen die Bandenkriminalität nach Haiti entsenden. Nach UN-Schätzungen sollen kriminelle Gruppen etwa 80 Prozent von Port-au-Prince kontrollieren und ihr Einflussgebiet zunehmend auch auf andere Landesteile ausweiten.

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Wie die Zeitung Miami Herald berichtet, sollen im Nationalgefängnis in Port-au-Prince auch mehrere Bandenführer inhaftiert gewesen sein. Außerdem sitzen dort 18 kolumbianische Ex-Militärs ein, die des Mordes an Präsident Jovenel Moïse beschuldigt werden, sie sind bei dem Angriff am Samstag offenbar nicht geflüchtet. Moïse war im Jahr 2021 in seinem Haus mit zwölf Schüssen getötet worden. Wer seine Ermordung in Auftrag gab, ist bis heute nicht geklärt.

Seitdem hat sich die Sicherheitslage in Haiti stark verschlechtert. Allein im Januar wurden nach UN-Angaben mehr als 1100 Menschen von Kriminellen getötet, verletzt oder entführt. Die Gewalt verschärft die ohnehin prekären Lebensbedingungen vieler Menschen. Haiti gilt als das ärmste Land Lateinamerikas und steckt seit Jahren in einer schweren Krise. Fast die Hälfte der elf Millionen Bewohner Haitis leidet laut UN unter akutem Hunger.

© SZ/dpa/Reuters/epd/cch - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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