Als Vertreter des linken Flügels hat Jürgen Trittin drei Jahrzehnte die Politik der Grünen gestaltet. Er überzeugte die Regierung Schröder vom Atomausstieg und wurde zum Vorzeige-Grünen. Sein Abschied war trotzdem alles andere als glanzvoll. Die Nominierung der Grünen-Spitzenkandidaten war in diesem Wahlkampf in vielerlei Hinsicht neu und unerwartet: Neu, weil die Partei erstmals ihre Basis in einer Urwahl über die Kandidaten abstimmen ließ. Unerwartet, weil eben diese Basis die eher unbekannte Katrin Göring-Eckardt wählte. Eine Sache war allerdings weder neu noch unerwartet: die Nominierung von Fraktionschef Jürgen Trittin. Der Ur-Grüne galt schon vor der Wahl als gesetzt. Er trat in diesem Jahr nach 2009 schon zum zweiten Mal als Spitzenkandidat an.
Trittin ist ein Grüner der ersten Stunde. Schon während seines Studiums tritt er im jahr 1980 in die Partei ein. Der gebürtige Bremer studiert in Göttingen Sozialwissenschaften, nach seinem Abschluss arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität und schreibt als freier Journalist.
Trittin ist in studentischen Gruppen politisch aktiv, organisiert Demonstrationen und besetzt Häuser. Er ist bekennender Kommunist und bis 1980 Mitglied des Kommunistischen Bundes. Als 1977 die RAF Generalbundesanwalt Siegfried Buback ermordet, veröffentlicht eine Göttinger Studentenzeitung eine Sympathieerklärung mit den Attentätern - das Blatt wird von einer Studentenorganisation herausgegeben, der Trittin später beitritt. Der Politiker verteidigt den sogenannten "Mescalero"-Text, entschuldigt sich 2001 nach einem Treffen mit Bubacks Sohn aber dafür.
1985 wird Jürgen trittin zum ersten Mal Abgeordneter - im Landtag von Niedersachsen. Weitere fünf Jahre später bilden die Grünen mit der SPD die Landesregierung. Trittin spielt für seine Partei zu diesem Zeitpunkt eine wichtige Rolle, er ist einer der Wortführer bei den Koalitionsverhandlungen. Unter dem damaligen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder (SPD) wird er Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten. 1994 verlieren die Grünen die Regierungsbeteiligung in Niedersachsen. Trittin ist für kurze Zeit abermals Abgeordneter in Hannover, legt sein Mandat später nieder und wird Sprecher der Bundes-Grünen.
Im Wahlkampf für die Bundestagswahl 1998 wird auf Initiative Trittins der sogenannte "Fünf-Mark-Beschluss" auf dem Magdeburger Parteitag gefasst. Innerhalb von zehn Jahren will der Politiker den Benzinpreis anheben - bis auf fünf Mark pro Liter. Der Widerstand ist riesig, die Partei verliert in Umfragen deutlich. Mit 6,7 Prozent zieht sie am Ende trotzdem ins Parlament ein, im endgültigen Wahlprogramm steht die Forderung nach dem erhöhten Benzinpreis nicht mehr.
Nach der Wahl 1998 sind die Grünen zum ersten Mal in ihrer Geschichte an der Bundesregierung beteiligt. Auch Jürgen Trittin zieht in den Bundestag ein. Mit dem neuen Kanzler Gerhard Schröder (SPD) hat er schon in Niedersachsen regiert, in Bonn macht Schröder ihn zum Umweltminister. Joschka Fischer, Trittins größter Gegner in den eigenen Reihen, ist Vize-Kanzler und Außenminister. Nach jahrelangen Machtkämpfen innerhalb der Partei arrangieren sich die beiden Kontrahenten in der rot-grünen Regierung miteinander.
In den Jahren von der Gründung bis zur ersten Regierungsbeteiligung haben sich die Grünen gewandelt. Aus einem Zusammenschluss von Umweltaktivisten, Kriegs- und Atomkraftgegnern ist eine pragmatisch handelnde Partei geworden. In der rot-grünen Regierung stimmen die grünen Abgeordneten einem Bundeswehreinsatz im Kosovo zu - in den Anfangsjahren der Partei wäre das undenkbar gewesen. Joschka Fischer wird dafür im Mai 1999 in Bielefeld ein Farbbeutel an den Kopf geworfen. Trittin sagt später, beide Alternativen seien falsch gewesen, die Grünen hätten sich für die weniger falsche entschieden.
Als Bundesumweltminister im Kabinett Schröder setzt Trittin im Jahr 2000 den Atomausstieg durch. Die rot-grüne Regierung beschließt, erneuerbare Energien zu fördern. 1998 waren die Verhandlungen gescheitert, weil Trittin und Wirtschaftsminister Müller sich nicht auf ein neues Gesetz einigen konnten. CDU-Chefin Angela Merkel kündigt bereits an, im Falle einer Regierungsübernahme von dieser Einigung abzuweichen. Und setzt 2010 eine Verlängerung durch.
2005 setzt Kanzler Schröder nach der verlorenen NRW-Wahl auf vorgezogene Neuwahlen. Zwar kann die SPD entgegen den Umfragen noch aufholen und erreicht mit gut 34 Prozent fast so viele Stimmen wie die Union. Doch Rot-Grün ist abgewählt. Joschka Fischer zieht sich daraufhin aus der Politik zurück, Jürgen Trittin wird Vize-Chef der Grünen im Bundestag, die nun wieder in der Opposition sind - und zugleich die Fraktion mit den wenigsten Sitzen im Parlament.
Zur nächsten Wahl 2009 dann ein Novum bei den Grünen: Zum ersten Mal wählt die Partei ihre Spitzenkandidaten auf einem Parteitag. Die Delegierten votieren für Trittin und Fraktionschefin Renate Künast. Am Wahltag erreicht die Partei 10,7 Prozent, ihr bestes Bundestagswahlergebnis überhaupt. Für die Regierung reicht es dennoch nicht, weil die SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis einfährt. In der folgenden Legislaturperiode führen Trittin und Künast die Grünen als Fraktionsvorsitzende.
2010 erleidet Trittin einen Herzinfarkt, den er ohne bleibende Schäden übersteht. Im gleichen Jahr wird er bei einer Podiumsdiskussion mit weißer Farbe attakiert. Wütend, aber unverletzt verlässt er die Bühne. Verbale Angriffe hat Trittin in seiner Bundestagskarriere ohnehin nie gescheut: Dem italienischen Regierungschef Berlusconi wirft er Beziehungen zur Mafia vor, Laurenz Meyer, den Ex-Generalsekretär der CDU, bezeichnet er als Skinhead. Mit den Jahren hat sich Tritt allerdings gemäßigt, seinen Ruf als rhetorischer Tiefschläger ist er zumindest teilweise los.
Zur Bundestagswahl 2013 will Trittin erst als alleiniger Spitzenkandidat antreten - Parteichefin Roth sträubt sich dagegen und kündigt an, ihrerseits zu kandidieren. Bei der Urwahl stellen sich dann insgesamt 15 Kandidaten zur Wahl. Trittin bekommt Unterstützung von seinem Wegbegleiter, Alt-Kanzler Gerhard Schröder. Der lobt die Europapolitik und das staatsmännische Auftreten Trittins und nennt ihn eine kluge Wahl.
Bei der internen Wahl der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2013 erhält Trittin 71,9 Prozent der Stimmen und liegt damit fast 25 Prozentpunkte vor der Zweitplatzierten Katrin Göring-Eckardt. Die Grünen sind mit ihrer Wahl zufrieden: Das Spitzenteam ist auf den ersten Blick so ausgewogen, dass es die ganze Partei widerspiegeln kann. Mann und Frau aus Ost und West, einer älter, die andere noch vergleichsweise jung, ein Parteilinker, die andere "Realo".
Eine Woche vor der Bundestagswahl 2013 gerät Trittin in der Pädophilie-Debatte um seine Partei persönlich in die Kritik. Ein Politikwissenschaftler berichtet über ein Programm der Göttinger Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (AGIL) aus dem Jahr 1981. Darin wird Straffreiheit bei Sex zwischen Kindern und Erwachsenen gefordert, wenn keine Gewalt angedroht oder ein Abhängigkeitsverhältnis nicht ausgenutzt wird. Trittin war presserechtlich für den Text verantwortlich. Unions-Politiker kritisieren ihn scharf, CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt fordert den Grünen zum Rücktritt als Spitzenkandidat auf. Trittin selbst bedauert diesen "Fehler" und erklärt ihn damit, dass die AGIL den Passus von der Initiative Homosexuelle Aktion Göttingen übernommen habe.
Aus der gescheiterten Bundestagswahl 2013 zieht Trittin Konsequenzen und tritt als Fraktionsvorsitzender zurück. Auf weniger als neun Prozent stürzen die Grünen ab. Beim Parteitag im Oktober verabschiedet Trittin sich mit feuchten Augen.