"Me Too" bei den Grünen:Terry Reintkes schwere Last

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Terry Reintke, Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl, habe inzwischen eigene Fehler eingeräumt, ist aus der Fraktion zu hören. (Foto: Christoph Soeder/dpa)

Erschüttert vom Fall Gallée, beschließen die Grünen im Europaparlament ein Sofortprogramm gegen sexuelle Belästigung. Aber die Aufarbeitung ist noch längst nicht abgeschlossen. Gelingt das der Chefin?

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Das Europaparlament sei eine "Brutstätte der sexuellen Belästigung", klagte eine Abgeordnete der Linken, als im Jahr 2017 die Me-Too-Bewegung auch die Europäische Union erreichte. Das Notizbuch einer französischen Parlamentsmitarbeiterin wurde damals zum Dokument der Schande für das Hohe Haus: Die Frau hatte über die Jahre hinweg notiert, was sie an männlichen Übergriffen erlebt hatte. Unter öffentlichem Druck leitete das Parlament Reformen ein, die den Abgeordneten und Beschäftigten besseren Schutz gewähren sollten. Es sieht aber nicht so aus, als sei damit das Problem aus der Welt.

Die Gruppe MeTooEP, im Jahr 2018 zum Selbstschutz gegründet von Beschäftigten des Parlaments, veröffentlichte zuletzt das Ergebnis einer anonymen Umfrage. Von mehr als tausend Befragten gab die Hälfte an, am Arbeitsplatz "psychologische Belästigung" erlebt zu haben. 15 Prozent erlitten demnach "sexuelle Belästigung", acht Prozent sogar "körperliche Gewalt". Zugleich wurde ein prominenter Fall mutmaßlicher sexueller Belästigung bekannt - ausgerechnet in der Fraktion, die sich politisch mehr als alle anderen für einen besseren Schutz der Beschäftigten einsetzt: bei den Grünen.

Der Fall des Abgeordneten Malte Gallée, 30, der sein Amt am 10. März unter dem Verdacht der sexuellen Belästigung niedergelegt hat, lastet schwer auf der Partei, vor allem auf Terry Reintke, der Fraktionsvorsitzenden und Spitzenkandidatin für die Europawahl. Sie war in den vergangenen Jahren die Stimme der Grünen, wenn es darum ging, sexuelle Belästigung im Europaparlament zu bekämpfen.

Schon 2022 war die Ombudsstelle mit Vorwürfen gegen Gallée befasst

Das Verhalten Gallées, Anfang 2022 als Nachrücker ins Parlament gekommen, fanden von Anfang an viele zumindest als übergriffig. Schon im Sommer 2022 war die interne Ombudsstelle der Grünen offenbar damit befasst. Aber über all die Monate hinweg hat es die Fraktionsführung nicht geschafft, die Affäre in den Griff zu bekommen. Die betroffenen Frauen, die dem Stern von dem Fall berichteten, warfen Reintke offenbar vor, sich nicht um ihren Schutz gekümmert zu haben. Malte Gallée wiederum weist den Verdacht der sexuellen Belästigung zurück.

Malte Gallée (Bündnis 90 / Die Grünen) im vergangenen Jahr im Gebäude des Europäischen Parlaments in Straßburg. (Foto: Philipp von Ditfurth/picture alliance/dpa)

Die französischen Grünen äußerten anfangs deutliche Kritik an Reintke, wenn auch niemand ihren Rücktritt forderte. Enttäuschung und Wut schlugen Reintke in Sitzungen mit den Beschäftigten entgegen, so wird berichtet. Sogar von "Vertuschung" war zunächst die Rede, wofür es keinerlei Belege gibt. Mittlerweile scheint Reintke aber Vertrauen zurückgewonnen zu haben. Sie habe eigene Fehler eingeräumt und glaubhaft gemacht, wie schmerzlich die Affäre auch für sie persönlich sei, so ist zu hören. Und Reintke verkörpere "die beste Chance", dass sich nun tatsächlich etwas zum Besseren wende.

Terry Reintke und ihr Ko-Vorsitzender Philippe Lamberts, ein Belgier, haben mittlerweile ein "Sofortprogramm" zum besseren Schutz der Beschäftigten vorgelegt, es sollte bei der Fraktionssitzung an diesem Mittwoch verabschiedet werden. Auch eine "Taskforce" wurde eingesetzt. Sie hat den Auftrag, mithilfe externer Experten das Verfahren zu verbessern, das sich die Grünen für Fälle von sexueller Belästigung gegeben haben.

Immer wieder hatte Reintke dieses im Parlament einzigartige System gerühmt. Wer sich belästigt fühlt, kann sich sehr niederschwellig an Ombudsleute in der Fraktion wenden. Um jeden Anflug von Mauschelei zu vermeiden, haben die Betroffenen auch die Möglichkeit erhalten, den Fall von externen Experten prüfen zu lassen. Voraussetzung dafür ist aber eine "offizielle Beschwerde". Im Fall Gallée gab es aber angeblich nur anonyme Vorwürfe. Und deshalb habe die Fraktionsführung keine Handhabe gehabt, disziplinarisch gegen den Abgeordneten Gallée vorzugehen.

Kritik an Terry Reintke kommt auch von der parlamentarischen Konkurrenz

Es ist offensichtlich nicht leicht, Fälle von sexueller Belästigung aus der Anonymität herauszuholen. Andererseits ist es kein Ausweis von Führungsstärke, einen Fall monatelang vor sich hin treiben zu lassen. Kritik an Terry Reintke kommt in dem Zusammenhang auch von der parlamentarischen Konkurrenz.

"Es reicht eben nicht, öffentlichkeitswirksam immer wieder verpflichtende Schulungen und ein härteres Vorgehen gegen sexuelle Belästigung im Parlament zu fordern, sondern den Worten müssen dann auch Taten folgen." So steht das in einem Brief von 14 Frauen aus der Europäischen Volkspartei (EVP), der der SZ vorliegt. Sie verweisen darauf, dass das Europaparlament als Institution über eigene Anlaufstellen für solche Fälle verfüge, und wollen wissen, ob diese eingeschaltet wurden. Auch über die internen Abläufe bei den Grünen im Fall Gallée verlangen sie Aufklärung. Die klassischen Fragen: Wer wusste wann was?

Die Grünen äußern sich über Details des Falles nach wie vor nicht öffentlich - zum Schutz der Betroffenen, so heißt es. Dabei hat der Fall auch eine politische Dimension. Warum wurde Malte Gallée im Mai 2023 trotz der internen Vorwürfe noch zum Spitzenkandidaten der bayerischen Grünen für die Europawahl 2024 ausgerufen? Warum zog er dann seine Kandidatur wieder zurück, unmittelbar bevor die Grünen Ende November vergangenen Jahres ihre Listen für die Europawahl bestückten? Wurde Druck auf ihn ausgeübt, vielleicht sogar von Rivalen im Kampf um die besten Listenplätze? Warum trat er dann im März, nur drei Monate vor Ablauf der Legislaturperiode, von seinem Amt zurück? Solche Fragen stellen sich viele Grüne gerade.

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