Zwischenbilanz der Bundesregierung:Ein Zeugnis, das sich Merkel gern erspart hätte

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Kanzlerin Angela Merkel und Bundesfinanzminister Olaf Scholz äußern sich im Bundeskanzleramt zur Halbzeitbilanz der großen Koalition. (Foto: dpa)

Die Bestandsaufnahme der großen Koalition fällt recht gut aus - doch das wird dem Regierungsbündnis nicht viel helfen. Ob die Regierung überlebt, kommt auf die Gefühlslage des SPD-Parteitags an.

Kommentar von Boris Herrmann

Jenes 83 Seiten dicke Dokument, das im Ruf steht, die "Halbzeitbilanz der großen Koalition" zu sein, heißt offiziell gar nicht Halbzeitbilanz, sondern Bestandsaufnahme. Das ist kein Detail, sondern schon ein Teil der Kommunikationsstrategie. Tatsächlich taucht das Wort Halbzeit in dem gesamten Text kein einziges Mal auf, und man kann getrost davon ausgehen, dass es nicht aus Versehen vergessen wurde. Erstens ist der Begriff hier schon deshalb unangebracht, weil diese Bundesregierung ja selbst nicht so recht weiß, wie lange sie noch existieren möchte - eine Halbzeit ist aber nur dann eine Halbzeit, wenn klar ist, wann der Schlusspfiff ertönt. Zweitens schwingt in der ohnehin überstrapazierten Fußballmetaphorik immer etwas mit, was das Dokument aus dem Kanzleramt offenbar ganz bewusst nicht zum Ausdruck bringt: etwas Gefühliges.

Mit Halbzeiten im eigentlichen Sinn verbindet man Motivationsreden, die Beschwörung des Teamgeistes, die sogenannte Kabinenpredigt. Die jetzt vorgelegte "Bestandsaufnahme über die Umsetzung des Koalitionsvertrages durch die Bundesregierung", so der Titel in voller Schönheit, ist das Gegenteil von alldem. Es handelt sich um einen administrativen Bericht unter Federführung von Kanzleramtschef Helge Braun, in dem Punkt für Punkt zusammengetragen wird, was diese Regierung aus ihrem Koalitionsvertrag bislang umgesetzt oder zumindest angepackt hat. Es ist keine Überraschung, dass dieses Selbstzeugnis gut ausfällt. Aber auch objektiv betrachtet ist es gar nicht so schlecht. Vor allem in der Gesundheits-, Familien- und Sozialpolitik hat diese Koalition schon vieles geliefert, was sie versprochen hat.

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Aber natürlich weiß auch die Bundeskanzlerin, dass es auf ein Häkchen mehr oder weniger am Ende nicht ankommt, wenn über die Frage entschieden wird, ob ihre Koalition bis zum Schluss der Legislaturperiode 2021 durchhält. Es kommt darauf an, ob es ihr gelingt, ihren von Selbstzweifeln geplagten Koalitionspartner bei der Stange zu halten.

Das wird auf dem anstehenden SPD-Parteitag entschieden. Ohne den dort versammelten Delegierten zu nahe treten zu wollen, darf man unterstellen, dass die meisten ihre Meinung nicht anhand dieser 83 Seiten bilden, falls sie die bis dahin vollständig gelesen haben. Es wird von der Gefühlslage abhängen, wie diese Entscheidung ausgeht. Von Dingen, die nicht in dem Papier stehen.

Die Zwischenbilanz ist recht gut, sie wird der Koalition aber nur wenig nützen

Wer den Koalitionsvertrag liest, findet darin keinen Beschluss zu einer Halbzeitbilanz, die mit einer Entscheidung über den Fortbestand der Regierung verknüpft wäre. Diesen Mechanismus scheint die SPD im Nachhinein in den Vertrag hineingefühlt zu haben, um den Eintritt in eine Koalition, die sie gar nicht wollte, vor sich selbst zu rechtfertigen.

Zweifellos hätte sich Angela Merkel dieses Zwischenzeugnis am liebsten ganz erspart, aber da sie es der SPD nun einmal geben musste, klingt nun schon aus dem buchhalterischen Titel der Versuch heraus, es politisch möglichst kleinzuhalten. Dazu dürfte auch Absatz 7b einen Beitrag leisten - was die Koalition in der Sozialpolitik noch vorhat. Da fehlt im Zusammenhang mit der Grundrente ein Wort, um das zuletzt die Schicksalsfrage der Koalition zu kreisen schien: die Bedürftigkeitsprüfung. Merkel ermöglicht damit der SPD, sich das Gefühl zu gönnen, es könnte noch eine zweite Halbzeit geben.

© SZ vom 07.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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