Großbritannien:Der Europäer im Stadtrat von Winchester

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Martin Tod (Foto: Cathrin Kahlweit)

Bei den britischen Kommunalwahlen werden Labour und Tories abgestraft und neben den Grünen vor allem die Liberaldemokraten belohnt. Einer von ihnen heißt Martin Tod und kommt aus dem Wahlkampf gar nicht mehr heraus.

Von Cathrin Kahlweit, London

Martin Tod hat in der Nacht auf Freitag wenig geschlafen, die Auszählung der Stimmzettel in Winchester dauerte einfach zu lange. Aber die Freude über den unerwartet hohen Sieg seiner Partei, der Liberaldemokraten, bei den britischen Kommunalwahlen hielt den 54-Jährigen wach - und natürlich die Tatsache, dass er von einem Wahlkampf nahtlos in den nächsten wechseln muss. Tod hat als Stadtrat in seinem Bezirk 62 Prozent der Stimmen bekommen - und seine Partei in der Kleinstadt die Mehrheit geholt. Aber am Freitagmittag steht er schon wieder im Zentrum und verteilt Flugblätter: In drei Wochen finden die Wahlen zum Europaparlament statt, die Anti-Brexit-Partei rechnet sich erneut gute Chancen aus, und Tod kandidiert nicht nur für das kleine Parlament in Winchester, sondern auch für das große in Straßburg.

Tod ist seit 30 Jahren Lokalpolitiker einer Partei, die als liberale Alternative zu den großen Altparteien, Tories und Labour, gegründet wurde. In den Nullerjahren, nach der fatalen Entscheidung von Tony Blair, die USA im Irakkrieg zu unterstützen, hofften die Liberalen kurzzeitig, ganz groß zu werden. Aber der Einzug in eine konservativ-liberale Koalition unter David Cameron 2010 und die Unterstützung der radikalen Sparpolitik der Tories brachte 2015 den Absturz. Die Wähler verziehen den Lib Dems nicht, dass sie die Austeritätspolitk mitgetragen hatten.

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Der Brexit weckte neue Hoffnung. Die Liberalen in Großbritannien waren die einzige, wenngleich geschwächte politische Kraft, die sich ohne Wenn und Aber für einen Verbleib in der EU aussprach. Und die, wie der überzeugte Europäer Tod sagt, nicht nur argumentierte, dass man die fehlerhafte Union reformieren könne, sondern auch, dass diese EU eine richtig gute Sache sei.

Auch in anderen Bezirken gewannen die Liberaldemokraten sowie die Grünen bei den Kommunalwahlen am Donnerstag deutlich hinzu, während Labour und Tories schmerzhafte Verluste einfuhren. Die Kommunalwahlen, bei denen auf lokaler Ebene ein Drittel der Sitze in Gemeinderäten und Kreistagen vergeben wurden, seien keine klare Antwort auf das "Brexit-Fiasko", sagt Tod. Er hat sich angewöhnt, nicht mit Wählern über den Brexit zu streiten - "sinnlos", sagt er, "die Überzeugungen sitzen zu tief". Er betrachtet den aktuellen Erfolg der Lib Dems, aber auch von Grünen und unabhängigen Kandidaten, eher als grundsätzlichen Einschnitt. Schließlich hätten beide Großparteien, also Tories und Labour, verloren. Die Wähler hätten also nicht eindeutig für die EU oder dagegen gestimmt, sondern gegen Parteien, die sich in die Brexit-Falle verstrickt und bis heute keine klare Botschaft geschickt hätten. Tod sieht das als Zeichen dafür, dass sich Partei-Loyalitäten auflösen: "Leute, die früher per Autopilot konservativ oder sozialistisch gestimmt haben, aber jetzt wütend sind, sehen plötzlich, dass es Alternativen gibt."

Er macht Politik, seit er denken kann. Schon als Student der Ökonomie und Mathematik in Cambridge war er Präsident des Debattierklubs und Vizechef der Studentenunion. Einmal hat er, erfolglos, für das Unterhaus kandidiert. Jetzt will er ins Europaparlament einziehen und vielleicht dadurch auch seiner österreichischen Frau ein bisschen näherrücken, die derzeit in München arbeitet. Seine Wohltätigkeitsorganisation für Männergesundheit müsste dann ein anderer leiten.

Die Chancen stehen nicht schlecht, dass er es schafft, während die Aussichten der Tories für die EU-Wahlen düster sind, und auch die von Labour, im Licht ihres überraschend schlechten Abschneidens bei der Kommunalwahl. Viele Leave-Anhänger wollen die neue Brexit-Partei wählen, während sich die Remainer zwischen Lib Dems, Grünen und der neuen Pro-EU-Partei Change UK entscheiden können. Martin Tod ist Politprofi, aber er ist auch durch viele Niederlagen gestählt; deshalb bleibt er vorsichtig optimistisch. Wenn Theresa May es in den kommenden drei Wochen nicht schaffe, einen Deal aus dem Hut zu zaubern, dann bekomme sie die Quittung am 23. Mai. "Dann habe ich eine echte Chance."

© SZ vom 04.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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