Großbritannien:Brexit, bitte melden

Anti Brexit march in London

So mancher Brite wüsste gerne, wohin der bekannteste Unbekannte der Nation entschwunden ist: Der Brexit-Hysterie ist Brexit-Schweigen gefolgt.

(Foto: REUTERS)

Seit Monaten wird im Königreich um den EU-Austritt gezerrt. Um Ostern ist er plötzlich verschwunden. Wo ist er nur hin, der Brexit?

Von Cathrin Kahlweit, London

Viele Briten sind derzeit geneigt, eine Vermisstenanzeige aufzugeben: "Vermisst: Brexit. Geboren 2016, verschwunden um die Osterzeit 2019. Aussehen: immer noch unbekannt. Letzte Adresse: Houses of Parliament, London SW1P 3JX, Vereinigtes Königreich. Bitte melde dich."

Nicht, dass die Verlustgefühle, die mit der Suchmeldung zum Ausdruck gebracht würden, besonders schmerzhaft wären - aber manch einer zwischen Ashford und Aberdeen, Harwich und Holyhead würde doch gern wissen, wohin der bekannteste Unbekannte der Nation entschwunden ist. Die Zeitungen berichten über das neue Bond-Girl und die bevorstehende Geburt des Babys von Meghan und Harry. Und vielleicht noch darüber, dass offenbar ein Minister Informationen aus dem Geheimdienstausschuss ausgeplaudert hat, um sich wichtig zu machen. Aber der Brexit?

Vorbei die Hysterie der vergangenen Wochen, vorbei die Nachtsitzungen im Parlament. Nicht mal auf die aktuelle Tagesordnung in Westminster hat es der EU-Austritt geschafft. Eine Weile war noch gemutmaßt worden, die zuständige Ministerin, Andrea Leadsom, die immer donnerstags das Programm für die kommende Woche vorstellt, könne, ganz unschuldig, eine neue Debatte samt Beschluss ankündigen: Demnach hätte das Parlament nicht zum vierten Mal über Mays Deal mit Brüssel abgestimmt - sondern stattdessen gleich über das Umsetzungsgesetz des Austrittsvertrags.

Damit würde, wie der Name schon sagt, der (noch gar nicht beschlossene) Vertrag umgesetzt, also in seinen Details debattiert und in britisches Recht übertragen. Die Regierung hätte also mit dieser Vorlage quasi gleich eine Stufe übersprungen, was, einmal mehr, große Empörung bei den Abgeordneten ausgelöst hätte, weil dieses Vorgehen vielen als übler Verfahrenstrick gilt. Theresa May, die längst keine Mehrheit mehr hat und deren Kabinett eigentlich nur noch zum Schein auf den Regierungsbänken Platz nimmt, hat daher doch lieber darauf verzichtet. Regiert wird derzeit ohnehin nicht.

Mit der politischen Machete im Unterholz

Apropos Verfahrenstricks: Was war nicht alles über die Ostertage diskutiert worden hinter verschlossenen Türen, teils auch in Abwesenheit der Chefin, die mit ihrem Mann wandern war. Der Vertrag ist ja zwar in Brüssel, das den Brexit eigentlich nicht will, durchgewinkt worden, nicht aber in Großbritannien, das den Brexit offiziell immer noch will. Daher liegt es an London, mit der politischen Machete einen Weg durch das brexitäre Unterholz zu schlagen.

Per Abstimmung im Unterhaus geht das, siehe oben, derzeit nicht. Daher war ventiliert worden, das Parlamentsjahr vorzeitig zu beenden, um ganz neu anzufangen - mit einem neuen, dem Brexit zugeneigten Parlamentssprecher und neuen Abstimmungen über den alten Deal. Dem hätte jedoch die Queen ihren Segen geben müssen, was präzedenzlos und wenig wahrscheinlich gewesen wäre.

Die Queen wäre übrigens auch, wenn alles regulär abliefe, demnächst mit einer Queen's Speech im Parlament an der Reihe. Die letzte hat sie 2017 gehalten; 2018 war das Ritual ausgesetzt gewesen, weil May ihre Brexit-Planung gleich auf zwei Jahre angelegt hatte. In dieser Rede stellt die Königin, meist im Sommer, das jeweils neue Programm der Regierung für das nächste Parlamentsjahr vor.

Wie der Guardian berichtet, sei für diesen Sommer aber keine Ansprache vorgesehen, "obwohl die Regierung, jenseits des Brexit, keine Projekte mehr hat". Da May aber weder für den Brexit noch für andere Pläne eine Mehrheit im Unterhaus habe, könne sie auch schwerlich eine Queen's Speech ansetzen, um so Projekte anzukündigen, die sie dann sowieso nicht durchbekomme.

Nichts in Bewegung nichts außer der Nachfolge-Frage

May kann also nicht vor und nicht zurück. Immerhin aber, und das muss schon als Nachricht gelten in diesen sonderbaren Tagen, ist sie noch im Amt. Eine Revolte des 1922er-Komitees, in dem sich die Tory-Hinterbänkler organisieren, scheiterte zu Beginn der Woche kläglich. Einige May-Hasser hatten beantragt, die Regeln so zu ändern, dass mehr als ein einziges Misstrauensvotum per anno gegen die Regierungschefin eingebracht werden kann; laut Statuten müssen zwölf Monate zwischen zwei Voten liegen, und das letzte hatte May im Dezember überstanden. Aber auch für diesen Vorstoß gab es zum Schluss keine Mehrheit.

Und so ist nichts in Bewegung, außer in der Nachfolge-Frage. Denn dass May eines Tages einen Nachfolger - oder eine Nachfolgerin - haben wird, ist klar. Sie selbst hatte versprochen zu gehen, sobald der Brexit durch ist, aber das kann bekanntlich dauern.

Versuche, sie zur Bekanntgabe eines Rücktrittstermins zu zwingen, sind gescheitert. Als wahrscheinlich gilt, dass die Tories bei den Kommunalwahlen am 2. Mai und bei den Europaparlamentswahlen am 23. Mai so schlecht abschneiden, dass May dann keine andere Wahl bleibe, als das Handtuch zu werfen, womit die so genannte Leadership challenge, das Nachfolgerennen, eröffnet wäre. Wer aber Mays Beharrungsvermögen kennt, dürfte da seine Zweifel haben.

Sollte sie tatsächlich nach einer für die Tories katastrophal verlaufenen EU-Wahl zum Rückzug gezwungen werden, gäbe es einen heißen Sommer - der Sommerpause des Parlaments zum Trotz. Praktisch alle Minister, und auch einige Hinterbänkler, rechnen sich Chancen aus, ihr nachzufolgen. Bei den Buchmachern und in Umfragen liegt Boris Johnson, der Ex-Außenminister, vorne.

Für 100 000 Pfund pro Rede um die Welt jetten

Er hat sich fit gemacht, hat abgenommen, teure Büros im Zentrum angemietet und ein Team von prominenten Beratern engagiert. Und er macht Kommunalwahlkampf, lässt sich vor den Türen begeisterter Wähler fotografieren, nur um dann mal schnell, für mehr als 100 000 Pfund pro Rede, zu Kurzvorträgen durch die Welt zu jetten. So ein interner Wahlkampf um den Job des Tory-Chefs will schließlich finanziert sein.

Weil Johnson aber vor allem im Kabinett und in der Fraktion eminent unpopulär ist, wird derzeit nach Kompromisskandidaten gesucht, hinter denen sich Brexit-Fans und -Gegner versammeln könnten. Ein Name fällt immer wieder: Umweltminister Michael Gove. Der hatte Johnson beim letzten Rennen zuerst unterstützt, war ihm dann aber in den Rücken gefallen. Es könnte also doch noch spannend werden, wenn auch erst mal nicht beim Brexit.

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