Automobilindustrie:"Deutschland hatte Benzin im Blut"

Lesezeit: 14 Min.

Ein Autofahrer betankt im Jahr 1976 seinen VW-Golf an einer Diesel-Zapfsäule in Wolfsburg (Foto: Imago Stock & People)

Diesel, Stickoxide, Tierversuche: Der Autoexperte Stefan Bratzel beklagt die Abgehobenheit der Branche, kritisiert das jahrzehntelange Nichtstun der Politik - und erklärt, warum Autos für jüngere Menschen immer unwichtiger werden.

Interview von Michael Bauchmüller und Stefan Braun, Berlin

Kriege, Klima, Flüchtlinge, kaputte Schulen - die nächste Bundesregierung wird vor großen Herausforderungen stehen. Die SZ befragt Experten, was diese von der Politik in dieser Welt voller Großaufgaben erwarten. Den Anfang machten der Politikwissenschaftler Herfried Münkler; ihm folgten unter anderem die Sozialexpertin Jutta Allmendinger und die Integrationsforscherin Naika Foroutan. Nun spricht Stefan Bratzel, Professor an der Fachhochschule der Wirtschaft in Bergisch Gladbach, über den dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust der Autobranche.

Versuche an Affen und Menschen, finanziert von großen Autokonzernen - überrascht Sie so was noch?

Bratzel: Ja. Von derartigen Tierversuchen der Autoindustrie hatte ich noch nie etwas gehört. Noch schlimmer ist aber etwas anderes: Wenn ich in diesen Wochen Gespräche führe, gerade mit sogenannten ganz normalen Leuten, dann sind die nicht mehr überrascht, sondern sagen: Na klar, so was machen die. Das ist das Tragischste und das Gefährlichste an der Geschichte: Die Menschen scheinen der Autoindustrie mittlerweile fast alles zuzutrauen.

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Auch die Polizei hält wenig von lokalen Fahrverboten: Es gebe gar nicht genug Polizisten, um solche Gesetze überhaupt durchzusetzen.

Von Markus Balser

Welche Konsequenzen wird das haben?

Das lässt sich noch nicht sagen. Aber es ist schon sehr sehr traurig, weil wir alle wissen, welch große Bedeutung die Autoindustrie für dieses Land hat. Allein mit mehr als 800 000 direkten Arbeitsplätzen, gut bezahlten Arbeitsplätzen. Doch für mich zeigt sich darin vor allem, dass wichtige Vertreter der Autoindustrie ein Stück weit den Kontakt zur Gesellschaft und zum Anstand in der Gesellschaft verloren haben.

Wie konnte das passieren?

Der Ursprung liegt wahrscheinlich darin, dass die Autoindustrie über Jahrzehnte in ihrem eigenen Universum gelebt hat. Sie konnte das, weil sie sehr erfolgreich war und kaum gestört wurde. Die Automobilhersteller waren es, die die Spielregeln bestimmt haben. Sie saßen im Mittelpunkt des Universums und haben insbesondere in Deutschland eine große Macht entfaltet. Volkswagen, Mercedes & Co. standen symbolhaft für höchste Qualität und Innovationskraft "Made in Germany". Gerade weil sie so vielen Menschen Arbeit gegeben haben, war ihr Einfluss enorm groß. Dann geschah, was in solchen Situationen gerne mal passiert: Wenn man weder von der Politik noch von der Gesellschaft klare Grenzen gesetzt bekommt, glaubt man irgendwann, dass alles möglich ist. Dabei stellt sich eine Kultur ein, bei der man sich nicht mehr als Teil der Gesellschaft versteht, sondern sich teilweise über die Gesellschaft stellt.

Der Industrie muss das gefallen haben.

Als "Master of the Universe" zu gelten und hofiert zu werden, mag vielen gefallen haben. Aber es macht bequem. Und Bequemlichkeit ist gefährlich. Die Autobranche konnte vor Kraft und vor Macht kaum laufen. Und also hat sie sich in einer Zeit, in der sich wahnsinnig viel verändert hat, in der Gesellschaft, aber auch technologisch, in manchen Feldern nicht oder nur widerwillig bewegt. Sie wollte lange Zeit einfach nicht wahrhaben, dass sich die Welt weiterdreht. Schnell weiterdreht.

Gilt das heute noch?

Zum Teil rede ich von einer Zeit, die gerade vorbeigeht. Wir sind in einem Übergang. Diese Tierversuche haben vor ein paar Jahren stattgefunden; das Institut ist abgewickelt worden. Ich glaube, in den vergangenen Jahren ist durch den Abgas-Skandal aber auch durch ein neues Wettbewerbsumfeld vieles in Bewegung gekommen. Auch ein Kulturwandel ist zumindest eingeleitet.

Kannten Sie die Lobbyorganisation, die bei den Tierversuchen eine Rolle spielte?

Vor dem Diesel-Skandal nicht. Die wurden ja mit dem Skandal an das Licht der Öffentlichkeit gespült. Allerdings zeigt mir die Tatsache, dass ein Geldgeber wie Bosch früher ausstieg, dass schon mancher merkte, in welche gefährliche Richtung der Kampf zur Rettung des Diesels da gehen sollte. Natürlich wussten die, was sie taten. Sie wussten, dass sie sich am Rande ethischer Grenzen bewegt haben. Und mancherorts haben sie die wissentlich überschritten. Deshalb passt der Testskandal sehr gut zum Diesel-Skandal. Man hat die Begrenzungen hierzulande gekannt und deshalb Orte gesucht, wo man es machen konnte. Versuche mit Affen macht man in Europa nicht mehr? Dann machen wir es halt in Amerika.

Ist das Hybris?

Absolut. Und man hat den Zeitpunkt verpasst, sich aus dieser Selbstverblendung wieder rauszuholen. Man ist auf dieser Spur immer weiter gefahren. Links und rechts haben sich andere Welten aufgemacht, aber die hat man lange ignoriert beziehungsweise erst sehr spät erkannt.

Die Tierversuche sollten auch helfen, den Diesel zu retten. Woher kam die Diesel-Fixierung der deutschen Industrie?

Der Diesel ist ein Kompetenz-Artefakt aus Deutschland. Beim Diesel haben Zulieferer wie Bosch, aber auch die Autofirmen sehr große Kompetenz; sie haben als Technologie sehr stark auf den Diesel gesetzt. Und sie sind in diesem Feld die Stärksten der Welt. Außerdem wollte man eine Antwort auf Toyota und den Hybrid. Die Deutschen dachten, dass der Diesel diese Antwort sei. Nach dem Motto: Das können wir, da haben wir was Besseres, damit können wir sie schlagen.

Es brauchte den Skandal?

Es kam, wie es oft kommt. Erst hat man Toyota ignoriert, dann belächelt, und dann kam 2005, 2006 die 180-Grad-Wendung mit der Botschaft: Wir haben es ja immer schon gesagt, auch der Hybrid macht unter bestimmten Umständen sogar Sinn. Aber das kam erst, als klar war, dass es anders gar nicht mehr geht. Dass der Diesel nicht reicht. Und dabei spielte es eine sehr große Rolle, dass die Amerikaner den Hybrid plötzlich mit Fortschritt gleichgesetzt haben. Und nicht den Diesel, wie die Deutschen gehofft hatten. Das war die erste große Wende - ein Ereignis, mit dem keiner so gerechnet hatte. Dahinter steht nicht nur Dummheit, sondern auch ein Machtkampf.

Ist das, was mit Dieselgate auf die Deutschen aus den USA zurollte, Teil einer amerikanischen Strategie, um die Vormacht der Deutschen zu brechen?

Man könnte es vielleicht so lesen. Ich glaube aber, man würde den Amerikanern Unrecht tun. Die Amerikaner haben keine Antriebstechnologie, bei der sie sagen würden oder könnten: Das ist unsere. Die USA sind Benziner-Land, aber mit einer Technik, die nicht sehr fortschrittlich ist. Weil es in dem Land ja auch keine Rolle spielte. Beim Thema E-Mobilität verändert es sich ein bisschen. Aber mit Ausnahme von Tesla haben sie auf dem Feld keine Vorreiter.

Warum ist es dann ausgerechnet aus den USA gekommen?

Die Amerikaner haben einfach nicht locker gelassen. Anders als deutsche Behörden. Aber nicht, weil sie die Anweisung von irgendjemandem bekommen hätten. Sondern weil sie tatsächlich nach Strich und Faden veräppelt wurden und sich mit den Erklärungen nicht einfach zufriedengegeben haben. In Deutschland hätte man wahrscheinlich gesagt: Na ja, wird schon irgendwie stimmen. Die Amerikaner waren dazu nicht bereit.

Gibt es in Deutschland überhaupt eine Behörde, die eine ähnliche Schlagkraft entwickeln würde?

Das Bundesumweltministerium und das Umweltbundesamt haben bei weitem nicht die Stärke und das Selbstbewusstsein, das ähnlich wie in Amerika durchzudrücken. Und erst recht könnten sie nicht mit den gleichen Sanktionen arbeiten, wie das in den USA möglich ist. Das ist überhaupt ein riesiger Unterscheid zu uns: dass man in den USA mit gewaltigen Sanktionen und Schadenersatzklagen rechnen muss.

Ist die deutsche Politik zu schwach, um solche Institutionen zu schaffen?

Die Politik trägt eine Mitschuld an dem Desaster. Wenn man sieht, dass es über Jahre hinweg Hinweise gab, auch von den eigenen Ministerien, dass die Labor- und die Straßenmessungen nicht übereinstimmen, dann darf man das als Regierung nicht ignorieren. Das Gleiche gilt meines Erachtens für die Tatsache, dass sich trotz der Einführung einer Euro-5-Norm und den Umweltzonen die Luftsituation in den Städten nicht nachhaltig verbessert hat. Es gab eine Kultur des Wegschauens, nach dem Motto: Wird schon stimmen. Und also gab man sich zufrieden mit der Technologie und den Aussagen der Autofirmen.

Was die Branche noch sicherer gemacht hat.

Absolut. Es hat dazu geführt, dass sich die Automobilhersteller sehr sicher fühlten. Das Verhalten der Politik bestätigte sie in dem gefährlichen Gefühl, dass ihnen sowieso niemand was kann. Auf diese Weise hat man den Zug immer weiterfahren lassen, statt irgendwann Stopp zu rufen.

Politik macht sich selbst klein?

Leider ja. Für mich fehlte es an einer emanzipatorischen Kraft, die sagt: Politik ist kompetent und souverän genug, um die eigenen Überzeugungen durchzusetzen. Deshalb wäre meine Forderung: Natürlich mit der Industrie reden, natürlich zuhören, was sind die Bedürfnisse und Wünsche. Nicht den Ast absägen, auf dem man sitzt. Aber man muss gleichzeitig auch die anderen gesellschaftlichen Gruppen zu Wort kommen lassen. Und parallel dazu muss die Politik klare eigene Visionen und Langfristziele entwickeln. Und man muss diese Ziele benennen, in eindeutige Gesetze gießen und Regelverstöße mit klaren Sanktionen belegen. Sonst wird es nicht besser. Diese Souveränität gegenüber der Branche ist wichtig. Der Mangel an derartiger Kontrolle und Rahmensetzung hat der Autoindustrie nicht genutzt, sondern eher geschadet.

Ist die jüngste Idee richtig, den öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten und auf diese Weise gegen Fahrverbote durch eine zu hohe Luftverschmutzung zu kämpfen?

Im Grundsatz befürworte ich das. Natürlich ist es sehr wichtig, den Verkehr in einer Stadt umfassend zu betrachten. Aber das wirkt nur langfristig. Und bislang ist es weder mit Blick auf die Kosten noch auf die Kapazitäten durchdacht.

Ist das Stichwort kostenlos hier entscheidend?

Nein. Es muss gar nicht kostenlos sein. Ich könnte mir vorstellen, dass auch günstige Jahreskarten schon viel bewirken - und beim nötigen Ausbau des Netzes sehr helfen. Man muss den Menschen ehrlich sagen, was das Ziel ist und was es kostet.

Was müsste die Regierung im Grundsatz ändern?

Sie hat ziemlich versagt. Der wichtigste Impuls ist die Begrenzung des CO₂-Ausstoßes, und der ist von der Europäischen Kommission gekommen. Dass künftig die Flotte eines Unternehmens im Durchschnitt nur noch 95 Gramm CO₂ auf 100 Kilometer ausstoßen darf, bedeutet im Klartext: Ohne eine massive Aufrüstung der Flotten mit Elektroautos ist dieser Wert nicht zu erreichen.

Ausgerechnet die oft kritisierte EU wird zum Motor der Reform?

Ja. Mit einer scharfen Regelung. Der ersten dieser Art in Europa. Natürlich hat die Branche in Deutschland dagegen gekämpft. Aber sie hat am Ende verloren. Und das ist ein gutes Beispiel: Die Politik muss die Kraft und die Souveränität haben, vernünftige Normen zu setzen. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Wenn eine Regierung das tut, werden die Automobilunternehmen auch mit guten Antworten reagieren. Denn auch wenn das im Moment keiner so richtig glaubt und hören will: Die Innovationskraft der deutschen Autoindustrie ist prinzipiell enorm hoch. Sie brauchen aber klare Botschaften und verlässliche Vorgaben. Letztlich wie beim Atomausstieg, nach dem Motto: "Da könnt und müsst ihr euch drauf einstellen. Das kommt."

Wenn Sie sich die Bedeutung des Autos ansehen: Hat Deutschland Benzin im Blut?

Ja, das stimmt schon. Es hatte Benzin im Blut. Und das Wirtschaftswunder, der Aufstieg und das Auto sind ineinander verwoben. Und wir verdanken ja - nach wie vor - unseren Wohlstand zu großen Teilen dem Auto. Vielleicht ist unser Verhältnis zum Auto so stark wie in Amerika das Verhältnis zur eigenen Waffe. So, wie selbst US-Präsidenten immer wieder daran scheitern, die Waffengesetze zu verschärfen, scheitern hier Politiker am Versuch, ein Tempolimit einzuführen. Freie Fahrt für freie Bürger - das ist genetisch mit uns verbunden. Jedenfalls bis zu einer bestimmten Generation.

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Und der Verband der Automobilindustrie ist das Gegenstück zu den US-Waffenlobbyisten der National Rifle Association?

Na ja, den Vergleich würde ich so nicht ziehen. Die Autoindustrie braucht eine starke Interessenvertretung. Sie ist der wirtschaftliche Ast, an dem ein großer Teil unseres Wohlstands in Deutschland hängt. Das wird gelegentlich auch ausgeblendet. Aber richtig ist schon: Ähnlich wie man hier gegen Tempolimits kämpft, kämpft in den USA die NRA gegen schärfere Waffengesetze. Da ist was dran. Wenn man neue, jüngere Generationen ansieht, dann erkennt man allerdings, dass das Auto schon lange nicht mehr dieses Alleinstellungsmerkmal hat, das früher für viele größte Bedeutung hatte. Früher brauchte man es, um sich zu identifizieren und zu differenzieren. Das nimmt heute dramatisch ab.

Woran machen Sie das fest?

Wir haben junge Leute befragt, auf was sie für ein neues Auto am ehesten verzichten würden: auf eine Reise, eine größere Wohnung. Da haben schon vor zehn Jahren 25 bis 30 Prozent gesagt: "Ich will auf gar nichts dafür verzichten." Da hat sich was verändert. Und ich würde wetten, dass die Quote heute bereits sehr viel höher ist. Letztlich ist es eine gesellschaftliche Diskussion: Wie wollen wir leben, welche Mobilität wollen wir haben, was nehmen wir dafür in Kauf? Mythos Auto, das ist Vergangenheit.

Stattdessen sollen die Autos bald autonom fahren. Hat diese Technik eine Chance auf deutschen Straßen?

Ich war kürzlich im Silicon Valley. Wenn man sich da in ein autonomes Auto setzt und auf öffentlichen Straßen mitfährt, wird man schon überrascht davon, wie toll und angenehm das ist. Wie gut und reibungslos es funktioniert.

Es gibt keine Probleme?

Doch, natürlich. Das größte Problem sind die Geschwindigkeiten und die Mischung autonomer Fahrzeuge mit anderen Autos, auch mit Radfahrern. Aber da kann man sagen: Lassen wir die autonomen Fahrzeuge doch langsamer fahren. Und sorgen wir dafür, dass sie sich möglichst wenig mischen mit dem sonstigen Verkehr, etwa durch spezielle Fahrspuren. Oder durch bestimmte Gebiete, die autonomen Autos vorbehalten sind. Dann kann sich relativ zügig etwas entwickeln. Für die Städte ist das übrigens auch überaus attraktiv.

Warum?

Weil die einen riesigen Parkraum gewinnen, der dann nicht mehr gebraucht wird. Das sind Immobilien in Bestlage, potenzielle Parks in der Innenstadt. Die werden frei, wenn man nur noch Roboshuttles reinlässt. Das kann das Leben in der Stadt komplett verändern, also schöner, attraktiver machen. Und so dem Ganzen einen zusätzlichen Schub geben.

Sorry, aber das klingt nach Utopie.

Ich rede hier nicht von den nächsten zwei, drei Jahren. Eher von einer Welt in zehn oder fünfzehn Jahren. Und das sind immerhin zwei Fahrzeug-Generationen.

Wo bleibt das Versprechen von Freiheit und Unabhängigkeit? Bislang war das Auto Sinnbild gerade auch dafür.

Dieses Versprechen löst sich derzeit massiv auf - erst im Stau, dann bei der Parkplatzsuche. Für neue Generationen gibt es die emotionale Verbindung zum Auto nicht mehr, weil sie es im Stau eher mit Komfortverzicht verbinden. Das Auto wird nicht verschwinden, es wird nur in den nächsten zehn, zwanzig Jahren dieselbe Entwicklung durchmachen wie das Pferd.

Das Pferd?

Das Pferd war ein Arbeitstier, mit dem hat man alles gemacht. Dann kam das Auto, aber damit ist das Pferd nicht verschwunden. Es ist zu einem großen Freizeitvergnügen geworden. Leute mit Zeit und Lust reiten immer noch, und das meistens gerne. Aber eines ist klar: Es ist kein Massenphänomen mehr. So wird sich auch das manuelle Fahren entwickeln. Es wird immer weniger wichtig werden.

Das klingt nach einer Vision für Städter. Wo bleiben die Menschen auf dem Land?

Die können auch mit dem Roboshuttle fahren. Der kann ja unterwegs noch jemanden aufgabeln. Und wenn er das tut, liegen die Kosten sehr schnell nur noch bei denen des öffentlichen Nahverkehrs. Das könnte sich selbst für Pendler lohnen. Es wird eine Kombination geben müssen, zwischen öffentlichen Massentransportmitteln und Roboshuttles.

Besonders ökologisch klingt das nicht.

Natürlich gibt es negative Effekte. Die Raumstrukturen werden sich ändern. Wenn man so leicht in die Stadt kommt, werden Menschen noch weiter rausziehen. Die können die Fahrt dann schon als Arbeitszeit nutzen, weil sie ja nicht mehr lenken müssen. Dadurch nehmen die Wegstrecken letztlich zu. Auch das will bewertet und reguliert werden. Aber im Augenblick befasst sich damit leider keiner.

Was erwarten Sie von einer neuen Bundesregierung?

Sie sollte keine bestimmten Technologien vorgeben. Dafür fehlt ihr einfach die fachliche und technische Kompetenz. Aber sie muss einen Konsens über gesellschaftliche Ziele suchen und herstellen, nach denen sich dann die Wirtschaft richten muss. Und Vorgaben, die zwingend sind, wie die Dekarbonisierung, der Abschied von fossilen Energieträgern, müssen hart sein. Wenn die Regierung in der Frage der Ziele ganz klar ist, können und sollen diejenigen über die Wege dorthin entscheiden, die sich mit Technologien auskennen.

Sie halten das Elektroauto für die wahrscheinlichste Variante. Aber auch hier stehen wir wieder vor einem Henne-Ei-Problem: Ohne Infrastruktur gibt es keine E-Autos; und ohne E-Autos wird keine Infrastruktur gebaut. Ist da nicht die Politik gefragt?

Natürlich muss sie den Rahmen dafür schaffen. Lange Zeit gab es überhaupt keinen echten Willen, die Elektromobilität voranzubringen. Es gab nur Vorbehalte, getreu dem Schlagwort: entweder reicht die Reichweite nicht oder es fehlt die Infrastruktur oder die Sache ist halt zu teuer.

Und wie wollen Sie diese Probleme überwinden?

Das meiste hängt an der Infrastruktur. Wenn ich ein dichtes Netz von Ladestationen habe, brauche ich pro Ladung keine große Reichweite. Damit wiederum sinkt der Preis fürs Elektroauto. Politik muss die Regeln setzen, sie soll keine Ausreden suchen. Also könnte und müsste sie sagen: Wenn ihr künftig mit Autos in Innenstädte wollt, geht das nur mit Null-Emissions-Fahrzeugen. Ich bin sicher, dann kommt auch die Infrastruktur. Ganz automatisch. Nur fehlt den Politikern dazu der Mut.

Was spricht dafür, dass sie mutiger werden? Der Autobranche geht es doch nach wie vor prächtig.

Das ist das Schizophrene, Verrückte und Gefährliche an der Situation. Im Moment feiert die Autoindustrie Rekorde, beim Absatz, beim Umsatz, bei den Gewinnen. Gleichzeitig weiß aber jeder, der es wissen will: Das waren die sieben fetten Jahre, jetzt beginnen sehr bald sieben magere.

Wo kommt der Erfolg her? Und wo der Bruch?

Beide Male heißt der Grund China. An der Nachfrage aus China liegt es, dass die Branche die Dieselkrise so gut überlebt. Man muss sich klarmachen: Volkswagen verkauft mittlerweile 40 Prozent aller Autos in China. 40 Prozent. Vor zehn Jahren waren es noch fünf Millionen Autos, heute sind es 28 Millionen Autos. Im Jahr.

Und China verlangt nun eine Elektroquote.

Genauso ist es. Das machen die weniger aus umweltpolitischen Gründen. Sie machen es, um die eigene Industrie zu stärken. Sie wollen unabhängig vom Öl werden. Und sie wollen globale Akteure hervorbringen. Beim Verbrennungsmotor schaffen sie das nicht mehr. Da sind die deutschen Hersteller viel zu stark für die chinesische Konkurrenz. Also setzen sie auf Elektroautos. Da sind sie eher wettbewerbsfähig. Genau deshalb sind die Deutschen richtig aktiv geworden: Jetzt nehmen sie das ernst.

Tun sie das wirklich?

Ja, jetzt arbeiten sie daran. Aber Elektromobilität wird nicht per se der Heilsbringer werden. Aus Klimasicht muss selbst mit regenerativem Strom so ein Auto 30 000 Kilometer weit fahren, bis der höhere Energieverbrauch aus der Batterieherstellung ausgeglichen wird. Erst danach wird die CO₂-Bilanz positiv. Und der Energiemix in Deutschland speist sich nur zu einem Drittel aus regenerativen Quellen. Auch beim Umweltschutz muss man ein riesiges Fragezeichen machen, wenn man bedenkt, dass das Kobalt für die Batterien unter sehr fragwürdigen Bedingungen im Kongo gefördert werden muss. Wir müssten dringend darüber diskutieren, was in welcher Form wirklich Sinn hat. Und dabei ist die gesamte Ökobilanz zu betrachten, wenn wir uns nicht weiter in die Tasche lügen wollen.

Was meinen Sie?

In fünf oder zehn Jahren werden wir vielleicht noch einmal anders über die Brennstoffzelle sprechen. Bei ihr lässt sich aus regenerativen Quellen Wasserstoff erzeugen und speichern. Es könnte auf längere Sicht eine Option sein. Ähnlich ist es bei synthetischen Kraftstoffen.

Wie würde Ihre Welt der Zukunft aussehen, wenn Sie mal ganz groß Regie führen dürften?

Mein Ziel wäre eine Stadt der Zukunft, in der gerade in den Innenstädten nicht mehr der private Autoverkehr dominiert. Nicht mehr der Lärm. Eine Stadt mit mehr Treffpunkten, mehr Begegnungsräumen. Das schaffen sie nicht, wenn Autos mit 120 Sachen an den Leuten vorbeirauschen. Private Autos würden also nur noch eine Randexistenz führen. Fahrrad, Fußverkehr, Straßenbahnen, Busse, Carsharing und die Vernetzung von allem, das wäre die Mobilität in dieser Stadt. Das private Auto käme nur für weitere Strecken in Frage. Aber ich kann mir selbst da Roboshuttles vorstellen, den ich zusammen mit anderen benutze.

Wie ein Zugabteil?

Genau. So entstünden Kennenlern-Räume für Begegnungen, die es vorher so nicht gab. Das wäre meine Vision, auch um eine weitere Atomisierung der Gesellschaft zu verhindern.

Stattdessen boomen SUVs, Panzer in der Innenstadt. Widerspricht das nicht einem Bedürfnis nach mobiler Gemeinschaft?

Es gibt beides. Der Mensch ist ein soziales Wesen und sucht Gemeinschaft und Austausch mit anderen. Das fehlt unserer Gesellschaft immer mehr. Aber in einer Gesellschaft, die immer gefährlicher erscheint, versucht man sich durch Schutzpanzer abzuschirmen. Irgendwann haben wir gated communities - das ist nicht die Gesellschaft, die mir vorschwebt.

Wir haben übers Auto, über Arroganz und Ängste der Branche gesprochen. Wenn Sie das mal für einen Moment beiseitelegen: Gibt es ein anderes Problem, das Ihnen derzeit mindestens so sehr am Herzen liegt? Oder gar schlaflose Nächte bereitet?

Ganz klar die Unterschiede zwischen Arm und Reich, global und national. Dieses Auseinanderdriften wird uns künftig immer stärker beschäftigen. Gerade weil die Welt so vernetzt ist und alle die Unterschiede sehen können. Nehmen Sie den Kongo: Wir kaufen das Kobalt und bauen tollste Sachen damit; bei den Menschen dort kommt davon kaum etwas an. Ich würde selbst auch versuchen, aus dem Kongo nach Deutschland zu kommen, um ein besseres Leben zu haben. Wir müssen es schaffen, diese Unterschiede auszugleichen. Besser früher als später. Bei dem hohen materiellen Reichtum wäre es kein Problem, hier die Steuern zu erhöhen, um mehr in die Gemeinschaft investieren zu können, in Sicherheit, in Schulen. Das wäre gut angelegtes Geld.

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