Frankreich:Hat der Attentäter alle getäuscht?

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Ein mutmaßlicher Islamist hat in Paris unweit des Eiffelturms am Samstagabend einen deutschen Touristen mit einem Messer getötet. (Foto: Dimitar Dilkoff/DPA)

Noch vor Kurzem gab sich Armand R. geläutert. Er sagte, er habe sich deradikalisiert. Trotzdem kam es in Paris zu einem tödlichen Terroranschlag. Jetzt diskutieren die Franzosen über den richtigen Umgang mit radikalen Islamisten, die ihre Strafe abgesessen haben.

Von Oliver Meiler, Paris

"Ein unvorhersehbarer Schritt zur Tat?" So, in großen Lettern und über die gesamte erste Seite gezogen, titelt die Zeitung Libération ihre Berichterstattung zum Terroranschlag nahe dem Eiffelturm, bei dem am Wochenende ein junger Deutscher ums Leben kam. In diesem Fragezeichen klingt ein vorwurfsvoller Ton an: Wäre es wirklich nicht möglich gewesen, den mutmaßlichen Terroristen, den 26-jährigen Franzosen Armand R., rechtzeitig zu stoppen, wo der doch ein höchst verstörendes Profil hat und wegen seines Radikalismus schon einmal vier Jahre im Gefängnis saß? Ließen sich etwa alle von ihm täuschen, als er seine Abkehr vom Islamismus beteuerte - die Ärzte, die Psychologen, die Geheimdienste, sogar die Eltern?

Armand R. ist 2015 zum Islam konvertiert, mit 19 Jahren. Seine Eltern waren aus Iran nach Frankreich ausgewandert, weil sie, wie es heißt, vor dem Regime der Mullahs flohen. Ihr Sohn wuchs bei Paris auf, machte sein Abitur, begann ein Studium der Biologie, als er den französischen Behörden im Sommer 2016 auffiel. Frankreich stand unter dem Schock vieler Attentate. Armand R. hatte sich im Netz über den Anschlag in Nizza gefreut, bei dem 84 Menschen getötet worden waren. Er soll auch im Kontakt gewesen sein mit Leuten, die einen Anschlag auf La Défense geplant hatten, das moderne Geschäftsviertel im Westen von Paris.

Armand R. aß Schweinefleisch und trank Bier - alles nur zum Schein?

Den Ermittlern erzählte er, er habe vorgehabt, nach Syrien zu reisen, um für das sogenannte "Kalifat" zu kämpfen. In jener Zeit war die Terrororganisation "Islamischer Staat" bereits erheblich geschwächt. "Damals gingen nur noch die Härtesten nach Syrien", sagte Hugo Micheron, Experte für europäischen Dschihadismus, nun dem Radiosender France Inter. Ein zusätzliches Alarmsignal.

2020, nach abgesessener Haft, gab Armand R. vor, er habe sich "selbst deradikalisiert", er sei zu einem "radikalen Antiislamisten" geworden. Damit ihm auch die Eltern glaubten, bei denen er nach seiner Freilassung lebte, aß er Schweinefleisch und trank Bier. Heute fragen sich die Franzosen, ob das nur eine Strategie war.

Aus Frankreichs überbelegten Gefängnissen werden derzeit pro Jahr nach verbüßter Strafe rund achtzig Häftlinge entlassen, die wegen islamistischen Terrorismus oder Radikalismus eingesessen haben. 2021 waren es 84, im vergangenen Jahr dann 77, im laufenden Jahr soll die Zahl ungefähr gleich hoch sein. Wie viele verlassen die Haft geläutert? Wie viele sind radikal geblieben oder haben sich weiter radikalisiert?

Naoufel Gaied, der Missionschef im Kampf gegen die Radikalisierung in den Haftanstalten, sagte neulich, diese Entlassenen seien die "größte Herausforderung der kommenden Jahre". Es gibt mehrere Stufen der Nachverfolgung, je nach Einschätzung der Fälle durch die Justiz - nur sehr wenige Häftlinge kommen einfach frei. Etwa einem Viertel von ihnen wird vorgeschrieben, sie müssten eine Arbeit annehmen, an Kursen teilnehmen und alle ihre Kontakte ins islamistische Milieu aufgeben. Ein weiteres Drittel der Entlassenen muss sich außerdem regelmäßig im Polizeikommissariat zeigen und darf die Wohnregion oder das Land nicht verlassen.

Der Innenminister weist die Verantwortung zurück

Armand R. wurde einem Psychiater zugewiesen, in die Klinik musste er nie. Er wird als "psychisch instabil" und "leicht beeinflussbar" beschrieben, Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin sprach nach der Tat von "großen psychischen Störungen".

Nun sagt Darmanin, die psychiatrische Begleitung nach der Haftentlassung sei "gescheitert", und weist die Verantwortung weg von seinem Ministerium. Der behandelnde Arzt habe die Medikamente für Armand R. im vergangenen Frühjahr abgesetzt und sich dafür engagiert, dass er frei leben dürfe. Die Justiz hatte keine Wahl, sie musste dem Rat folgen. "Etwa dreißig Prozent der Personen, die wir wegen Radikalismus beobachten", sagte Darmanin, "haben psychische Probleme. Das ist ein Haufen Leute."

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Forscher Hugo Micheron warnt davor, komplexe Profile von radikalen Islamisten vor allem mit psychischen Motiven zu erklären: Oft sei es eine Kombination aus psychischer Labilität und ideologischer Verblendung, doch mit den ideologischen Gründen setze man sich zu wenig auseinander. Von Armand R. weiß man mittlerweile, dass er im Oktober ein Konto bei X, ehemals Twitter, eingerichtet hatte und dort Dinge zum Krieg in Nahost und zu den zivilen Opfern in Gaza postete. Kurz vor der Tat postete Armand R. ein Video, in dem er dem "Islamischen Staat" die Treue schwört. Beim Verhör nach seiner Verhaftung sagte er dann, er stehe und bekenne sich "total" zur Tat.

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