Frankreichs Staatsfinanzen:"Wir stehen mit dem Rücken zur Wand"

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Die Rue de Rivoli in Paris. Die Einnahmen aus dem massiv kriselnden Immobilienmarkt sind rückläufig - das ist schlecht für die Staatskasse in Frankreich. (Foto: Imago)

Großes Defizit, hohe Staatsschulden: Emmanuel Macrons Ruf als vernünftiger Buchhalter leidet. Und sein Finanzminister schreibt Bücher. Dabei müsste Frankreich endlich die Augen öffnen, warnt der Präsident des Rechnungshofs.

Von Oliver Meiler, Paris

Die Franzosen erfahren gerade, dass ihr Staat weit über seine Verhältnisse lebt. Das ist an sich nichts Neues: Die bisher letzte französische Regierung, die einen ausgeglichenen Haushalt hingelegt hat, ist ein halbes Jahrhundert her - 1974. Doch diesmal, für das Jahr 2023, ist der Fehlbetrag noch viel höher ausgefallen, als es die Regierung ohnehin schon einkalkuliert hatte. Eine "Entgleisung", so nennen es alle Medien, "un dérapage". Nur das vorgeschobene Adjektiv variiert: "groß", "spektakulär", "katastrophal". Da bleibt wenig Interpretationsspielraum.

Laut dem Nationalen Institut für Statistik und Wirtschaftsstudien, kurz Insee, hat Frankreich im vergangenen Jahr 154 Milliarden Euro mehr ausgegeben, als es eingenommen hat. Das Defizit beträgt damit 5,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Budgetiert gewesen waren mal 4,9 Prozent. Präsident Emmanuel Macron und sein Wirtschaftsminister Bruno Le Maire beteuern nun bei jeder Gelegenheit, man wolle den Fehlbetrag bis 2027 unter die ominöse Maastrichter Drei-Prozent-Schwelle drücken, um die Märkte und die internationalen Ratingagenturen zu beruhigen. Doch dazu muss das Land dringend neue Mittel finden: zehn Milliarden Euro schon für 2024, für eine kleine Kurskorrektur. Die Frage ist: wo? Und: wie?

Frankreich wird bald 80 Milliarden Euro an seine Kreditgeber entrichten müssen

Die konsolidierten Zahlen des Insee zeigen auch, dass die Staatsschulden gleichzeitig im Vergleich zu 2022 nur sehr unwesentlich zurückgegangen sind, sie stehen bei 110,6 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung. Nur Griechenland und Italien haben noch höhere Schulden. Frankreich entrichtet mittlerweile jedes Jahr 50 bis 60 Milliarden Euro an seine Kreditgeber, bald werden es 80 Milliarden sein. Denkwürdig sei auch, findet Pierre Moscovici, der Präsident des französischen Rechnungshofs und frühere sozialistische Finanzminister, dass alle Länder in der Euro-Zone dabei seien, ihre Defizite zu senken - "nur Frankreich nicht".

Moscovici gibt jetzt den Cheferklärer der Zahlen. Er hat die Gabe, dabei sehr unmissverständlich zu reden. Man müsse den Franzosen "die Wahrheit" sagen, stellte er im Radiosender France Inter klar, kaum waren die Statistiken bekannt geworden, "und zwar ohne Tabus": "Wir stehen mit dem Rücken zur Wand." Er wolle ja nicht alarmistisch sein, Frankreich sei ein solides Land, die Schulden ließen sich finanzieren, Kreditgeber fänden sich immer. "Aber wir müssen jetzt ernsthaft werden und die Augen öffnen." Ähnlich redet François Villeroy de Galhau, Gouverneur der Banque de France, Frankreichs Zentralbank: "Vierzig Jahre lang gab es nie den richtigen Moment, um die öffentlichen Ausgaben in den Griff zu bekommen", sagte er vor ein paar Tagen. "Wir reichen in aller Gelassenheit eine Zeitbombe weiter an die zukünftigen Generationen."

In der Kritik steht die Politik. Macron galt einmal als vernünftiger und recht gestrenger Buchhalter. Seit Beginn der Pandemie hat sich der Ruf gewandelt. Man wirft dem Präsidenten vor, er habe viel zu optimistisch gerechnet: Sein großes politisches Versprechen, die Vollbeschäftigung im Land, sollte auch dafür sorgen, dass genügend Steuereinnahmen in die Kassen des Staates flössen. Nun aber wächst die Arbeitslosigkeit wieder. Ebenfalls rückläufig sind die Einnahmen aus dem massiv kriselnden Immobilienmarkt. Und das Wachstum insgesamt fiel schwächer aus als erhofft.

Die Prognosen sagen einen Sieg der extremen Rechten von Marine Le Pen voraus

Ohne Opfer geht es nicht. Doch Opfer sind nun einmal unpopulär. Sparen schränkt den politischen Spielraum ein, und das kann für das Regierungslager schon bei den Europawahlen im Juni schwere Folgen haben. Die Prognosen der Umfrageinstitute sagen einen Sieg der extremen Rechten von Marine Le Pen voraus; die Macronisten liegen in den Erhebungen fast zehn Prozentpunkte dahinter.

Auch darum hört man nun Wirtschaftsminister Le Maire allenthalben sagen, es werde keine Steuererhebung geben, für niemanden. Viel mehr werde er Kosten senken in der öffentlichen Verwaltung und Zuschüsse kürzen. "Selbst die Unterstützung für die Ukraine führt nun zum haushälterischen und politischen Kopfzerbrechen", schreibt Le Monde. Versprochen sind "bis zu drei Milliarden Euro" in diesem Jahr.

Über die passende Budgetpolitik gehen die Meinungen auch in Macrons eigenem Lager auseinander. François Bayrou etwa, der Chef der zentristischen Partei MoDem, mahnt an, dass man die Debatte über eine höhere Besteuerung der "Supergewinne" der Firmen und der "Superdividenden" eröffnen müsse.

Damit trifft er einen Punkt im Bauch des Volkes: In der französischen Mittelschicht ist das Gefühl weitverbreitet, dass man dem Staat viel zu viel entrichtet, während die Reichen und die großen Wirtschaftsführer eher glimpflich davonkämen. Auch das zeigen alle Umfragen.

Le Maires Auftritt in diesen Tagen verwundert viele. Er hat gerade wieder ein neues Buch auf dem Markt, fast jedes Jahr kommt ein frisches heraus. Meistens sind es Romane, auch mal mit erotischer Note. Wann er die Zeit fürs Schreiben findet? Das bleibt sein Rätsel. Diesmal ist es eine Art Bewerbungsschreiben für die Präsidentschaftswahl von 2027, es trägt den Titel: "La Voie Française", der französische Weg. Er tourt damit durch die Medien und erzählt, dass es jetzt endlich nötig sei, dass Frankreich seine Ausgaben kontrolliere, mehr Disziplin zeige. Nun, Bruno Le Maire ist seit 2017 Wirtschafts- und Finanzminister Frankreichs.

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