Flüchtlinge in Griechenland:Gestrandet auf Chios

Lesezeit: 4 Min.

Im dramatischen Sommer 2015 erreichten täglich 1000 Menschen Chios, zuletzt waren es 81 auf Lesbos, Leros, Kos, Samos und Chios zusammen. Doch der Platz ist so knapp, dass viele Flüchtlinge in Zelten wohnen. (Foto: picture alliance/AP Photo)

Die Insel vor dem türkischen Festland ist durch den EU-Türkei-Deal zur Sackgasse für mehr als 2000 Flüchtlinge geworden. Platz ist im "Hotspot" aber gerade einmal für die Hälfte.

Von Christiane Schlötzer, Chios

Die Fähre schafft die Strecke in 20 Minuten, Touristen können mehrmals täglich vom türkischen Çeşme auf die griechische Insel Chios übersetzen, von weißen Sandstränden zu den Felsenbuchten auf der Insel. Die Nähe hat ein besonderes Verhältnis geschaffen, zu allen Zeiten. Chios war fast 350 Jahre unter osmanischer Herrschaft. Als die Deutschen auch Chios im Zweiten Weltkrieg besetzten, flohen Griechen in Fischerbooten in die Türkei. Heute verläuft die Migrationsroute in umgekehrter Richtung.

Im dramatischen Sommer 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung, erreichten täglich 1000 Menschen Chios. Im Februar 2016 wurde hier der erste "Hotspot" zur Registrierung und Unterbringung eingerichtet. Es wurden dann fünf, und es gibt sie immer noch: auf Lesbos, Leros, Kos und Samos - auch wenn längst viel weniger Menschen ankommen.

Auf allen Inseln waren es am vergangenen Freitag 81, um die 100 aber sind es oft. Mindestens sechs Türken sind gerade vor Lesbos ertrunken, darunter drei Kleinkinder, meldete der Sender CNN Türk am Sonntag. Türken, die diesen illegalen Weg nehmen, flüchten gewöhnlich vor einer Verhaftung in der Türkei.

Mittelmeerroute
:Politikberater schlägt Flüchtlingszentrum in Spanien vor

Immer mehr Einwanderer kommen über Spanien in die EU. Der Vordenker des EU-Türkei-Pakts fordert Deutschland und andere EU-Staaten zu einem neuen Anlauf in der Flüchtlingspolitik auf.

Das griechische Innenministerium meldet jeden Tag die Neuankünfte. Seit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom März 2016 sollen die Geflüchteten in den Insel-Hotspots bleiben, bis über ihren Asylantrag entschieden ist - und bei Ablehnung direkt zurück in die Türkei. Derzeit sind noch 18 100 Flüchtlinge auf den Inseln, weitere 40 000 in Unterkünften auf dem griechischen Festland. Im Hotspot von Chios leben 2090 Menschen, eigentlich hat das Camp nur 1014 Plätze.

"Wir sind überbelegt", sagt Vaso Danou, die Direktorin. Sie ist erst seit ein paar Wochen im Amt, ihr Vorgänger hat nach einem halben Jahr aufgegeben. Als Grund nannte er "wachsenden Druck aus der lokalen Bevölkerung". Danou, 33, sitzt in ihrem Büro, es ist blickdicht abgetrennt vom Rest einer riesigen Fabrikhalle. Hier wurde einst Aluminium produziert, das Unternehmen hieß Vial. So heißt nun das Lager.

"Die Leute hier haben gegen eine Erweiterung des Hotspots geklagt", sagt Danou. Der Streit ging bis vors oberste Gericht. Das entschied, dass es in Vial nur 100 Container geben dürfe, für 1274 Menschen. Danou sagt: "Wir haben auch zu wenig Übersetzer, zu wenig Ärzte."

Säcke und Stoffstücke, aufgespannt für ein bisschen Privatheit

In Chios würden sie immer genau spüren, was "in der Region passiert", sagt Danou. Im April kamen Kurden aus Afrin. Die türkische Armee hatte zuvor die kurdisch-syrische Stadt Afrin eingenommen. Syrer, Iraker stellen immer noch die Mehrheit der Leute im Camp. Geplant war einst, dass sie drei bis 25 Tage in diesem "Erstaufnahmezentrum" bleiben. Dann kam das Türkeiabkommen, die Inseln wurden zur Sackgasse. "Die Flüchtlingskrise ist ein großes Problem für alle Länder", sagt Danou, "wir versuchen unser Bestes."

Danou sagt, man verstärke jetzt den Zaun um das Lager, Bauern hätten Angst um ihre Olivenernte. Das Camp liegt inmitten von Feldern, etwa 20 Autominuten entfernt von der Inselhauptstadt. Das Tor am Eingang ist nicht verschlossen, aber Wachleute kontrollieren Ein- und Ausgang. Außer den Mitarbeitern mehrerer NGOs darf gewöhnlich niemand rein. Auf dem Zaun gibt es eine Krone aus Stacheldraht, Plastikfetzen haben sich darin verfangen, flattern wie Fähnchen im Wind.

Weil die Container nicht reichen und das Gerichtsurteil es verbietet, mehr aufzustellen, ist fast jeder freie Platz auf dem Gelände mit Zeltplanen überspannt, dazwischen Säcke, Stoffstücke, für ein bisschen Privatheit. Die Sommerhitze lässt die Luft flirren.

Aus einer Zeltgasse stürzt ein Mann auf eine Helferin zu, schreit auf Englisch: "Give me a room." Die Helferin geht weiter, sagt nichts. Sie heißt Maria, ist Griechin, will Geografie studieren: "Hier kannst du nur arbeiten, wenn du dich daran gewöhnt hast", sagt sie. Sie erzählt von der Schule für Kinder im Camp und davon, dass man etwa 60 unbegleitete Jugendliche nun in einem "geschützten Bereich" im Lager unterbringen konnte. Darauf ist sie ein bisschen stolz.

Ein Mädchen, vielleicht drei Jahre alt, sitzt im Staub vor einem Zelt, reibt mit Sand einen leeren Yoghurtbecher aus. Kochen ist nicht erlaubt im Camp, das Essen wird angeliefert. Vial wurde wie alle Hotspots vom griechischen Militär errichtet. Vielleicht wirkt das Camp deshalb, als wäre es in einem Kriegsgebiet gerade erst errichtet worden, unfertig, mit einfachsten Mitteln. Migrationsminister Dimitris Vitsas hat jüngst der Zeitung Kathimerini gesagt, bis Jahresende wolle er die Zuständigkeit vom Militär übernehmen. Vitsas versprach eine enge Zusammenarbeit mit den internationalen Akteuren, den lokalen Gemeinden und den NGOs.

Migration
:Schleuser weichen auf andere Mittelmeerrouten aus

Die Zahl der Flüchtlinge auf der zentralen Mittelmeerroute ist stark gesunken, anderswo ist die Tendenz steigend. Das hat mehrere Gründe.

Von Andrea Bachstein

Ohne die Mithilfe der Freiwilligen würde es in Vial noch viel schlimmer aussehen. "Für die Unterstützung sind wir dankbar", sagt Direktorin Danou. Trotzdem trifft man die NGO-Vertreter lieber außerhalb des Camps, in einem Café in Chios-Stadt. Eine Ärztin sagt, "wenn die Menschen verstehen, dass sie in diesem Camp feststecken, dann sind viele verzweifelt, haben Panikattacken". Einige sagten dann auch: "Ich würde am liebsten zurückkehren." Im Camp gebe es Schlangen, Skorpione und Ratten, sagt die Ärztin.

"Inakzeptabel" nennt ein anderer Helfer die Bedingungen. Er sagt, Migranten, die auf Chios ankämen, wüssten oft gar nicht, wo sie gelandet seien. "Es gibt tausend Gerüchte, und viele denken, sie müssten nur zwei Tage hier bleiben, dann gehe es weiter." Kein Schmuggler würde den Flüchtlingen sagen, dass sie von der Insel nicht mehr wegkämen. Der Helfer sagt, er habe junge Syrer getroffen, "die hören die gleiche Musik wie ich", und junge Afrikaner, die sagten, "wir haben einst unseren Kolonialherren Steuern bezahlt, jetzt gehen wir in unsere Mutterländer".

In der täglichen Tabelle steht in der Spalte Türkei-Rückkehrer meist eine Null

Noch schwieriger als in Chios ist die Lage auf Lesbos. Das Lager Moria ist notorisch überfüllt, 7470 Menschen sind dort gegenwärtig untergebracht, auf offiziell 3100 Plätzen. Die Spannungen sind hoch, es gibt Auseinandersetzungen unter den Migranten, aber auch mit Inselbewohnern. Jüngst schoss ein 78-jähriger Grieche auf einen 16-jährigen Syrer und verletzte ihn schwer. Er habe ihn, so sein Anwalt, plötzlich in seinem Hof gesehen.

Migrationsminister Vitsas will die Asylverfahren auf den Inseln bald auf drei bis vier Monate verkürzen, dann soll auch die zweite Instanz schneller arbeiten, und dann sollen auch Flüchtlinge in die Türkei zurück. In der täglichen Tabelle des Ministeriums steht in der Spalte der Rückkehrer in die Türkei meist eine Null.

Vitsas ist auch bereit, mit dem deutschen Innenminister eine bilaterale Vereinbarung über die Rücknahme von schon in Griechenland registrierten Flüchtlingen zu treffen. Es geht dabei bislang um verhältnismäßig kleine Zahlen. Um etwa 3300 Menschen, die in der Eurodac-Datei in Griechenland registriert wurden. Dafür sollen 3500 Flüchtlinge, die in Griechenland auf eine Familienzusammenführung warten, nach Deutschland dürfen. Auf die Inseln, hat Vitsas versichert, werde er aber keinen der aus Deutschland Zurückgeschickten bringen lassen.

© SZ vom 30.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Italienischer Innenminister
:Mallorca erklärt Salvini zur "persona non grata"

Weil er Flüchtlinge und Retter beleidigt, sei der italienische Innenminister auf der Insel nicht mehr erwünscht. Salvini reagiert prompt. Italiens Justiz ermittelt derweil gegen deutsche Seenotretter.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: