Bootsunglück vor Frankreichs Küste:Letzte Hoffnung Ärmelkanal

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"Ein Planschbecken, das man sich im Garten aufstellt", sei das Boot gewesen, in dem wohl 34 Menschen am Mittwoch versuchten, nach England zu gelangen. Fast täglich begeben sich Menschen auf die Überfahrt, wie hier bei Wimereux. (Foto: Gonzalo Fuentes/Reuters)

Wenn sie in der EU keine Chance auf Asyl sehen, versuchen viele Flüchtlinge, nach Großbritannien zu gelangen. Immer wieder sterben Menschen auf der Überfahrt. Nach dem Bootsunglück am Mittwoch weisen sich Frankreich und Großbritannien gegenseitig die Schuld zu.

Von Nadia Pantel, Paris

Es ist das größte Unglück im Ärmelkanal, seit die Internationale Organisation für Migration, IOM, dort Daten erhebt: Mindestens 27 Menschen sind am Mittwoch vor der französischen Küste ertrunken. Zuerst war man sogar von noch mehr ausgegangen. Die Verstorbenen hatten versucht, auf dem Seeweg Großbritannien zu erreichen. Frankreichs Innenminister Gérald Darmanin bezeichnete ihr gekentertes Boot als "ein Planschbecken, das man sich im Garten aufstellt". Die französischen Behörden gehen davon aus, dass sich 34 Menschen an Bord des Bootes befanden. Zwei Männer konnten aus dem 13 Grad kalten Wasser des Ärmelkanals gerettet werden, sie stammen aus dem Irak und Somalia. Laut Innenminister Darmanin zählen fünf Frauen und ein Kind zu den Ertrunkenen.

Während in der Nacht auf Donnerstag aus der Luft und zu Wasser weiter nach Überlebenden gesucht wurde, begann der politische Streit, wer für die Toten verantwortlich sei. Sowohl der französische Präsident Emmanuel Macron als auch der britische Premierminister Boris Johnson beteuerten am Mittwoch, man müsse weiter eng zusammenarbeiten. Gleichzeitig verzichteten sie nicht auf gegenseitige Vorwürfe. Spät in der Mittwochnacht teilte der Élysée mit, dass Macron mit Johnson telefoniert habe und die "gemeinsame Verantwortung Frankreichs und Großbritanniens betont" habe. Gleichzeitig habe Macron Johnson darum gebeten "darauf zu verzichten, eine dramatische Situation für politische Zwecke zu instrumentalisieren".

Zuvor hatte der britische Premier gesagt, Frankreich patrouilliere zu wenig an seiner Küste, tue schlicht "nicht genug", um illegale Überfahrten zu verhindern. "Wir hatten Schwierigkeiten, einige unserer Partner, insbesondere Frankreich, zu überreden, die Dinge so anzugehen, wie wir glauben, dass die Situation es erfordert", sagte Johnson. London verlangt von Paris, britische Beamte am Grenzschutz auf französischem Boden zu beteiligen. Sie also konkret zum Beispiel beim Patrouillieren an den Stränden mitarbeiten zu lassen. Ein Vorschlag, den Paris mit Verweis auf seine nationale Souveränität ablehnt.

Am Morgen nach dem Unglück druckten verschiedene britische Medien ein Foto auf ihre Titelseiten, das zeigt, wie Menschen ein Schlauchboot Richtung Meer tragen, während im Hintergrund die französische Polizei parkt. Das Foto zeigt nicht das Boot, das später in Seenot geriet, soll jedoch illustrieren, dass Frankreich wegschaue. Das Blatt Metro wählte die Überschrift: "Warum hat Frankreich sie nicht aufgehalten?"

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Ein zentrales Versprechen der Pro-Brexit-Kampagnen bestand darin, den Bürgern zu sagen, ein Austritt aus der EU würde zu einem massiven Rückgang der Migration führen. Tatsächlich ist der Streit zwischen Frankreich und Großbritannien über die Grenzkontrollen am Ärmelkanal älter als der Brexit. Die Menschen, die von der französischen Küste aus versuchen, nach Großbritannien zu kommen, hatten auch vor dem EU-Austritt der Briten kaum legale Möglichkeiten zur Überfahrt. Bei den in Calais Gestrandeten handelt es sich häufig um Menschen, deren Asylanträge bereits in einem oder mehreren EU-Staaten abgelehnt wurden. Nach jahrelangem Warten stehen sie vor der Alternative: Abschiebung oder Ärmelkanal.

Sensoren prüfen, ob in einem Transportcontainer ein Mensch atmet

Zwischen 2015 und 2016 war der sogenannte Dschungel von Calais zu einem riesigen Camp vor dem Fährterminal der Stadt angewachsen, in dem sich Flüchtlinge sammelten. Bevor der Dschungel im Oktober 2016 geräumt wurde, lebten dort mehr als 9000 Menschen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Nach der Räumung des Dschungels verstärkten Paris und London gemeinsam die Grenzsicherung in Calais. Die Briten haben den Franzosen einen 37 Kilometer langen Doppelzaun spendiert, um den Zugang zum Fährterminal zu versperren. Das Gelände um den Eurotunnel dürfte der am strengsten gesicherte Logistik-Knotenpunkt der EU sein. Hunderte Kameras, Sensoren, die prüfen, ob in einem Lastwagencontainer kein Herzschlag zu hören ist, CO₂-Detektoren, die jeden Atmenden finden. Alles, damit niemand mehr versucht, sich in die Lastwagen zu schummeln, um so nach England zu gelangen.

Der Eurotunnel, die Schiffe und Lastwagen wurden so erfolgreich abgeriegelt, dass seit 2018 die Zahl der Ärmelkanal-Überfahrten steigt. Früher starben Migranten in Calais, weil sie von Lastwagen erfasst wurden. Heute ertrinken sie. 2019 starben vier Menschen im Ärmelkanal, 2020 waren es sechs Tote und drei Vermisste. 2021 waren bereits vor dem Unglück vom Mittwoch drei Menschen gestorben, vier sind vermisst.

Die französischen Strandkontrollen, die verhindern sollen, dass die Schlauchboote in See stechen, werden von Großbritannien mitfinanziert. In Erneuerung voriger Abkommen sicherte London zuletzt am 24. Juli Paris zu, den Grenzschutz mit 63 Millionen Euro zu unterstützen. Macron sagte am Mittwoch, Frankreichs Behörden hätten 2021 bislang 1552 Schleuser festgenommen. 600 Polizisten seien entlang der Ärmelkanal-Küste im Einsatz, 47 000 versuchte Überfahrten seien gezählt worden. 7800 Migranten seien von französischen Beamten aus Seenot gerettet worden. Großbritannien zählt auf der anderen Seite des Wasser diejenigen, die ankommen. 22 000 Menschen hätten 2021 bislang die britische Küste per Schlauchboot erreicht.

Trotz des Streits zwischen Paris und London sind sich Macron und Johnson in einem Punkt einig: Das Hauptproblem seien die Schleuser. Schlepperbanden würden "mit Mord davonkommen", sagt Johnson. Macron teilte mit: "Schlepperbanden gefährden Leben", der Ärmelkanal dürfe "kein Friedhof werden". Macron forderte die Verstärkung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex an den Außengrenzen. Frankreichs Innenminister erhob indirekt auch Vorwürfe Richtung Deutschland. Dem Radiosender RTL sagte er am Donnerstag, "der Schleuser, den wir heute Nacht festgenommen haben, hatte deutsche Kennzeichen". Etliche der Schleuserboote stammten aus Deutschland.

Ein Hinterfragen der eigenen Migrationspolitik war weder aus Paris noch aus London zu hören. Flüchtlingsorganisationen werfen der französischen Regierung vor, die Menschen in Calais unwürdig zu behandeln. Um einen neuen Dschungel zu verhindern, werden Schlaflager von Flüchtlingen alle 24 bis 48 Stunden geräumt. Schlafsäcke und Zelte werden zerstört. Der britischen Regierung wirft unter anderem die französische Asylorganisation Terre d'Asile, die auch die Regierung berät, vor, keine sicheren Fluchtwege nach Großbritannien zu schaffen.

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