Finnlands Nato-Beitritt:Mehr Vorbereitung, weniger Angst

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"Wir waren immer vorbereitet": Finnland hat sein Militär ausgerüstet mit Blick darauf, wie Russland angreifen könnte. (Foto: Alessandro Rampazzo/AFP)

Was bringt das kleine Land als neuestes Mitglied in die Nato ein - außer 1300 Kilometer Grenze zu Russland? Zum Beispiel einen hohen Verteidigungsetat und eine Menge Reservisten.

Von Alex Rühle, Helsinki

Einer der beeindruckendsten Orte Finnlands liegt tief unter Hakaniemi, einem der zentralen Plätze Helsinkis. Man geht in ein Glashäuschen, nimmt den Aufzug, fährt 30 Meter unter die Erde - und kommt raus im Arena Center, einem Sport- und Freizeitpark im unterirdischen Felsgestein: ein knallbunter Riesenabenteuerspielplatz, Hockeytrainingsfelder, Fitnessstudios, Physioräume, drei Hallenfußballplätze und ein Parkhaus. Mittendrin Plastikpalmen, Kaugummi-Automaten, eine Cafeteria, ein Sportshop.

Diese 15 000 Quadratmeter sind im Grunde gebaute Angst: Das Arena Center kann innerhalb von 72 Stunden in einen Bunker für 6000 Menschen umgerüstet werden. Hinter den Wänden der Fußballhallen lagern 2000 Betten und 250 Toilettenschüsseln. Die Wände sind so dick, dass die ganze Unterkunft angeblich einem Atomangriff standhalten würde.

Dieses Arena Center ist hier in Helsinki keine einmalige Einrichtung, es gibt eine riesige unterirdische Eishockeyhalle und ein öffentliches Schwimmbad, die beide als Bunker nutzbar sind. Insgesamt bietet die Stadt Schutzunterkünfte für 900 000 Menschen - Helsinki hat 650 000 Einwohner.

"Im Ernstfall wüssten die meisten Finnen, was zu tun ist."

"Wir waren immer vorbereitet", sagt Minna Ålander, Politikwissenschaftlerin am Finnish Institute for International Affairs. Was sie damit meint: Finnland hat eine 1345 Kilometer lange Grenze mit Russland. Die Sowjetunion überfiel Finnland 1939, und man kann kaum sagen, was für die Finnen damals schlimmer war: dass ihnen ein Großteil Kareliens genommen wurde oder dass sie das Gefühl hatten, von den damaligen Westmächten alleingelassen worden zu sein. Ålander, die zehn Jahre lang in Deutschland gelebt hat, sagt, der Begriff der gebauten Angst treffe es in Bezug auf die Bunker nicht richtig. "Ich würde es pragmatischen Pessimismus oder Realismus nennen. Die Debatten sind hierzulande viel weniger von Angst geprägt als in Deutschland, weil im Ernstfall die meisten Finnen wüssten, was zu tun ist."

Finnland hat die Wehrpflicht nach dem Ende des Kalten Krieges nie abgeschafft. Zurzeit absolvieren jährlich rund 22 000 Männer ihren Wehrdienst (Frauen können sich freiwillig melden). Die stehende Truppe ist deshalb sehr klein, etwa 12 000 Mann. "Den großen Unterschied zu anderen Ländern machen bei uns die Reservisten aus", sagt Ålander.

Wo jetzt im Untergrund Helsinkis Kinderspielplatz und Sportanlagen sind, würden 6000 Menschen einen Bunkerplatz finden: die Freizeitanlage Arena Center. (Foto: Alex Rühle)

Als kürzlich im nordnorwegischen Kirkenes eine Tagung zur Sicherheitspolitik in der Arktis und in den nordischen Ländern stattfand, saßen da irgendwann die drei Oberbefehlshaber der finnischen, schwedischen und norwegischen Armee auf dem Podium, alle drei im Flecktarn, als kämen sie frisch von der Front. Auf die Frage, was Schweden und Finnland als Neumitglieder in die Nato mitbrächten, sagte der schwedische General, man habe ein großes Territorium und eine gut aufgestellte Armee zu bieten. Sein finnischer Kollege sagte trocken, man bringe 1300 Kilometer Grenze zu Russland mit, "dazu im Ernstfall 280 000 Mann, inklusive Reserve 870 000 Mann". Finnland hat 5,5 Millionen Einwohner, ähnlich wie Norwegen. Ein beeindrucktes Raunen ging durch den Saal.

Das Zwei-Prozent-Ziel erfüllen sie längst. Bald übertreffen sie es

"Also, Moment mal", sagt Heikki Patomäki in seinem Büro in Helsinki. Patomäki ist ein 60-jähriger Professor für Politikwissenschaft, und man tritt ihm nicht zu nahe, wenn man sagt, dass er nicht nach einem durchtrainierten Rekruten aussieht. "Diese 870 000 Mann sind reine Theorie, da wird jeder mit reingerechnet, der jemals bei der Armee war. Ich habe vor 40 Jahren meinen Militärdienst abgeleistet, als Funkwagenkommandant. Ich hatte seither nie mehr Training, wäre aus Gesundheitsgründen für keinerlei Armeetätigkeit geeignet, aber gehöre noch bis Ende dieses Jahres zu den 870 000 Mann."

Auch wenn man die Zahl der Reservisten also mit Vorsicht genießen muss: Finnland erfüllt mittlerweile das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der Nato. Die Ausgaben wurden zwischen 2017 und 2022 von 2,8 auf 5,1 Milliarden Euro erhöht - also von 1,2 Prozent des Bruttosozialprodukts auf mittlerweile 2,1 Prozent. Kurz nach Kriegsbeginn beschloss die Regierung, den Verteidigungshaushalt in den kommenden vier Jahren um weitere 2,2 Milliarden Euro zu erhöhen. Das bedeutet Investitionen von etwa 788 Millionen im Jahr 2023 und weitere jährliche Erhöhungen von 400 bis 500 Millionen zwischen 2024 und 2026. Und jeweils deutlich über zwei Prozent.

Das finnische Militär sagt, es könne im Ernstfall sofort 280 000 Soldaten aufbieten: Reservisten bei einer Übung in Südkarelien. (Foto: Lauri Heino/IMAGO/Lehtikuva)

Finnland bekommt in den kommenden Jahren 64 F-35-Kampfjets aus den USA und verfügt über eine der größten Artillerie-Ausrüstungen in ganz Europa. "Auch daran sieht man, dass in Finnland der Fokus durchgehend auf der Landesverteidigung lag", sagt Minna Ålander. "Die meisten westeuropäischen Länder haben in den vergangenen 20 Jahren das sogenannte expeditionary force model eingeführt: kleinere, mobile Einheiten für Krisenmanagement-Einsätze wie in Mali oder Afghanistan. Finnland aber behielt seine Landstreitkräfte bei, und wenn man auf den Krieg in der Ukraine schaut, weiß man auch, warum in die Artillerie investiert wurde: Es ging bei der Ausrüstungsplanung immer um die Frage, womit Russland wahrscheinlich angreifen würde."

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Momentan sind 80 Prozent der Finnen für den Nato-Beitritt. Heikki Patomäki zählt definitiv zu den anderen 20 Prozent. "Ich denke immer noch, dass das Land besser dran war mit seiner Neutralität", sagt der Politologe. "Wir Finnen haben uns damit unserer bisherigen Vermittlerrolle beraubt. Und ab heute steht die Nato 180 Kilometer vor Sankt Petersburg, das wird die Situation mit Russland nicht einfacher machen."

Die meisten Finnen aber haben den Beitritt eindeutig gefeiert, das Hissen der finnischen Fahne vor dem Nato-Hauptgebäude in Brüssel am späten Nachmittag wurde im Fernsehen live übertragen.

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