Faschismus-Projekt Fiume:Führerkult, Unterdrückung und orgiastische Feste

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"Berauscht von der eigenen Rasse": Vor hundert Jahren machte der italienische Dichter Gabriele d'Annunzio die Stadt Rijeka im heutigen Kroatien zum Experimentierfeld des Faschismus - und wurde so zum Vorbild für Mussolini.

Von Tobias Zick, Rijeka

Es ist eine lärmende, bunte, waffenstrotzende Kolonne, die da auf die alte Hafenstadt an der Adria zurollt. An ihrer Spitze: ein roter Fiat 501, mit Blumen geschmückt, darin sitzt ein nicht allzu großer Mann mit Glatze. Was ist da los, fragen sich Beobachter am Straßenrand, so viele Blumen, eine Beerdigung?

Der Mann im roten Fiat liebt Blumen. Er liebt auch Frauen, er liebt donnernde Auftritte und Kampfflugzeuge, und er liebt sein Italien, das Mutterland, für das er im Krieg auf einer Seite das Augenlicht verloren hat.

Bevor er in der Nacht zuvor zusammen mit seinen Mitverschwörern am Friedhof von Ronchi aufgebrochen ist, einem Städtchen nahe Triest, hat er einen Brief geschrieben an seinen "lieben Kameraden" Benito Mussolini: "Die Würfel sind gefallen. Ich reise jetzt ab. Morgen früh werde ich Fiume mit Waffengewalt einnehmen. Der Gott Italiens möge uns beistehen."

Es ist der 12. September 1919, und Gabriele D'Annunzio, 56 Jahre alt, italienischer Poet und Kriegsheld, rollt mit 2000 "Legionären" in die Stadt ein, die bis zum Ende des Ersten Weltkriegs einen recht multikulturellen Außenposten der Habsburger-Monarchie am Mittelmeer bildete; wo die Menschen Italienisch sprachen, Kroatisch, Ungarisch, Deutsch.

Jetzt soll sie, so haben es die Diplomaten bei den Friedensverhandlungen von Paris beschlossen, an das neu gegründete Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen fallen. Für D'Annunzio und seine Mitstreiter ist klar: Einen derart "verstümmelten Sieg" kann ihre junge Nation, das Königreich Italien, niemals hinnehmen.

"Lang lebe das italienische Fiume" brüllen die Massen, die vor hundert Jahren beim Einmarsch Spalier stehen und mit Lorbeerkränzen und Fahnen wedeln. Vom Balkon des Gouverneurspalastes rollt der Dichter eine meterlange grün-weiß-rote Flagge aus.

Die Historikerin Tea Perinčić hat von der Stadt den Auftrag, dem Rest der Welt im Kulturjahr 2020 ein halbwegs gerechtes Bild von D'Annunzio zu bieten. (Foto: Tobias Zick)

"Hier bin ich", ruft er und lässt das Jubelgeschrei lange hallen, ehe er fortfährt: "Ich, der Freiwillige, der in allen Waffengattungen gekämpft hat, ich, der verwundet und verstümmelt wurde, ich reagiere auf die tiefe Sorge meines Landes, indem ich verkünde, dass Fiume heute auf ewig zur Mutter Italien zurückgekehrt ist."

Die Stadt sei fortan "ein Leuchtturm, erstrahlend in einem Meer der Niedertracht". Der Faschismus hat sein erstes Spielfeld gefunden.

Der Führerkult nimmt vieles vorweg, was Mussolini später zur Regierungsform erhebt

In den folgenden 15 Monaten werden der Dichter und seine Sturmtruppen die Stadt besetzt halten und einen Führerkult etablieren, der vieles dessen vorwegnimmt, was Mussolini drei Jahre später mit seinem Marsch auf Rom zur Regierungsform erheben wird. Fackelmärsche in Uniformen, peitschende Reden des "Duce" ans Volk, der zum "römischen Gruß" gereckte rechte Arm. Und orgiastische Feste.

Die Monate der "italienischen Regentschaft an der Kvarner-Bucht", wuchern zu einem Massenrausch, in dem eine seelisch kriegsversehrte junge Generation rastlos all das nachzuholen scheint, was ihr die Jahre zuvor geraubt wurde. Ein durchchoreografiertes Fest der Jugend und der Körperlichkeit, eine Art frühfaschistische Kommune.

Die "Carta del Carnaro", eine Art Verfassung, an der prominente Gewerkschafter mitschreiben, enthält einige durchaus fortschrittliche Elemente; sie stellt Frauen und Männer offiziell gleich, schreibt einen Mindestlohn vor und die Freiheit der Presse. Manche Geschichtsschreiber sehen in jenen 15 Monaten auch ein Vorspiel für die antibürgerliche Revolte von 1968.

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Wobei: "Im Gegensatz zu den Hippies wollten die Besatzer von Fiume nicht nur Liebe machen, sondern auch Krieg", gibt die britische D'Annzunzio-Biografin Lucy Hughes-Hallett zu bedenken.

Der alte Gouverneurspalast, den D'Annunzio zu seiner Machtzentrale umfunktionierte, ist heute das Seefahrt- und Geschichtsmuseum der Stadt, die zu Kroatien gehört und Rijeka heißt. 2020 wird sie "Kulturhauptstadt Europas" sein.

Drinnen im Palast führt die Historikerin Tea Perinčić durch einen Saal mit weißen Seidentapeten und alten Habsburger-Möbeln, in dem der selbsternannte poeta soldato damals seine Besucher empfing. Von hier aus schritt er durch die Flügeltür auf den Balkon, um sich und die Massen in Rage zu reden.

"Wenn man sich die gängigen Werke über D'Annunzio durchliest", sagt Tea Perinčić, "dann bekommt man den Eindruck, die damalige Zeit wäre vor allem ein großer Spaß gewesen. Das stimmt natürlich nur für einen Teil der Bevölkerung." Mit der Hand reibt sie über ein Treppengeländer aus Marmor. Jemand hat das Wort "Arditi" hineingeritzt, "die Kühnen". So hießen die Sturmtruppen aus dem Ersten Weltkrieg, die dann einen wesentlichen Teil von D'Annunzios "Legionären" in Fiume bildeten.

Die Buchstaben sind tief in den Stein getrieben, wohl mit einem Dolch, dem Markenzeichen der Arditi, und offenkundig mit äußerster Kraft und Verbissenheit.

"Ich bin nicht mehr von mir selbst berauscht, sondern von meiner ganzen Rasse", so hat Gabriele D'Annunzio seine Leidenschaft für das Spiel mit den Emotionen der Massen beschrieben: "Die Menge ist wie weißglühendes Metall. Alle Münder der Gussform sind offen. Eine riesige Statue wird gegossen."

So ging das, bis sich die Regierung in Rom mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen im November 1920 per Grenzvertrag von Rapallo darauf einigte, Fiume zu einem "unabhängigen Freistaat" zu erklären. D'Annunzio weigerte sich, den Vertrag anzuerkennen, Rom schickte daraufhin das Schlachtschiff Andrea Doria, das an Weihnachten 1920 von Fiumes Hafen auf den Gouverneurspalast feuerte, eine Wand einriss und D'Annunzio in die Flucht trieb.

Ein Jahrhundert später fasst die Stadt ihren prominenten Sohn, wenn man ihn so nennen will, mit sehr spitzen Fingern an. Während das offizielle Italien ihn bis heute vor allem als überschäumenden, erotisch-aberteuerlustigen Fin-de-Siècle-Dichter in Erinnerung hält, sehen viele kroatische Bürger und Politiker in D'Annunzio in erster Linie den Demagogen, der der faschistischen Besatzung ihres Landes den Weg geebnet hat.

Ihren Dichter D'Annunzio will sich die Lehrerin Melita Sciucca auf keinen Fall nehmen lassen. Mit ihren Schülern liest sie bis heute in jeder Klasse dessen ersten Roman "Il piacere". (Foto: Tobias Zick)

Tea Perinčić führt den Besucher in ihr Büro im Erdgeschoss. Von der Stadt hat sie den Auftrag, dem Rest der Welt im Kulturjahr 2020 ein halbwegs gerechtes Bild zu bieten. Neben einem Buch bereitet sie eine Ausstellung vor: "Fiume - D'Annunzios Märtyrerin".

Sie konzentriert sich darin auf die Rolle der Frauen - schließlich war der glatzköpfige Poet mit den, wie sein Sekretär seinerzeit notierte, "grauenhaften Zähnen", Zeit seines Lebens als Frauenschwarm erster Güte bekannt. Bei seinen Aufmärschen wurden Frauen in Abendkleidern und mit Gewehren über der Schulter gesichtet. "D'Annunzio ist mit der Stadt umgegangen, wie er mit Frauen umgegangen ist", sagt die Historikerin. "Er hat sie verführt und für seine Zwecke benutzt."

Wobei die Verführungskünste des Dichters vor allem den italienischen Teil der Bevölkerung ansprachen - andere erlebten die Besatzung vor allem als brutal. Tea Perinčić klickt am Bildschirm auf ein eingescanntes Dokument, das Tagebuch einer Frau namens Zora Blačić , damals 23 Jahre alt, die in ihrer Verzweiflung schreibt: "Alles ist vorbei."

Ihr Verlobter könne nicht aus Zagreb zu ihr kommen; weder Züge noch Post kämen von dort mehr in die Stadt, "Gott weiß, wie lang das so weitergeht". Es gebe schon keine Hefe mehr, um Brot zu backen. Und dann beschreibt die junge Frau, wie "die italienischen Soldaten die Geschäfte von kroatischen Inhabern zerstören", auch der Laden ihres Vaters, Schuhhändler von Beruf, sei schließlich darunter gewesen.

Die Behörden vernichten reihenweise Existenzen - etwa durch Berufsverbote

Der Korrespondent der New York Times schreibt am 1. März 1920: Gabriele D'Annunzio habe "eine weitere Deportation von Kroaten und anderen Ausländern" angeordnet, deren Anwesenheit als "schädlich für die Sicherheit der Stadt" betrachtet werde. Auch Sozialisten seien inzwischen "von der allgemeinen Säuberung der Stadt erfasst".

Ein paar Schritte vom alten Gouverneurspalast, im Staatsarchiv von Rijeka, kann man sich in Dokumente vertiefen, die nachfühlbar machen, wie die Besatzer reihenweise Existenzen vernichteten. Es sind fast ausnahmslos Menschen, die slawisch oder ungarisch klingende Nachnamen tragen.

Zum Antrag eines Friseurs auf Erneuerung seiner Betriebserlaubnis vermerkt der Beamte am 16. Dezember 1919, der Mann sei "auf politisch-moralischer Linie nicht vertrauenswürdig" und hege "antinationale Gefühle".

Ein Schmied, dem die Behörden ebenfalls die Erneuerung seiner Betriebserlaubnis abgelehnt haben, schreibt regelrecht bettelnd: "Ich habe mich nie mit Politik beschäftigt, ich bin neutral, ich möchte wieder arbeiten."

So geht es weiter. Einer klagt "demütigst", das Berufsverbot werde nicht nur ihn selbst, sondern auch seine Familie "schmerzlich treffen", und überhaupt sehe er sich nicht in der Lage zu begreifen, warum sein Antrag abgelehnt wurde.

"Dieser D'Annunzio, unter dem das alles geschah, soll also bloß ein etwas extravaganter Künstler gewesen sein?", sagt Boris Zakošek, der leitende Archivar, und scrollt an seinem Computer durch die Scans zweier Bücher, die den Stempel des "Nationalrats der Geflüchteten aus Rijeka" tragen.

Darin sind von Hand insgesamt 3013 Namen notiert, von Menschen, die während D'Annunzios Herrschaft die Stadt offenbar sehr eilig verlassen haben. Slavica Havić, Schülerin. Nicola Petrić, Angestellter. Oskar Rosenberg, Arzt.

Heute sind die Italiener in Rijeka eine Minderheit - aber immer noch eine sehr präsente

Heute sind die Italiener in Rijeka eine Minderheit, etwa zwei Prozent der Bevölkerung, aber eine immer noch sehr präsente Minderheit, unterstützt von der Regierung in Rom. Es gibt fünf italienische Schulen, eine italienischsprachige Tageszeitung, und die "Gemeinschaft der Italiener von Fiume".

Deren Vorsitzende, Melita Sciucca, im Hauptberuf Lehrerin, sitzt in einem Café, aus dessen Vitrinen die ganze Pracht der europäischen Zuckerbäckerkunst strahlt: Tiramisu, Cremeschnitten, Macarons. Melita Sciucca, in einem Kleid, das es an Buntheit mit der Auslage durchaus aufnehmen kann, bestellt Millefoglie-Eis und erzählt von ihrer Großmutter.

Die war 15 Jahre alt, als D'Annunzio die Stadt einnahm: "Sie war verrückt nach ihm", sagt sie, "sie hat mir oft erzählt, wie sie und ihre Freundinnen jedes Mal hinliefen, wenn er auftrat." Allerdings sei die Großmutter eine einfache Frau gewesen, Näherin, an Politik nicht interessiert: "Wenn sie heute 15 Jahre alt wäre, würde sie vermutlich für Justin Bieber schwärmen."

Sie selbst, sagt Melita Sciucca, könne nun wirklich keine Nationalistin sein. Als Kind sei sie bei den jugoslawischen Pionieren gewesen, sie habe zu Titos Geburtstag die Staffel getragen. Und als zum ersten Mal auf dem Schulhof andere Kinder herüberriefen: "Italiener, Faschisten", da habe sie sich nur gewundert: "Ich wusste gar nicht, was das Wort bedeutet."

In jüngster Zeit erlebe sie es öfter, dass auf der Straße jemand zischelt: "Italiener, geht nach Hause!" Die Nerven liegen blanker, seit in Rom der Nationalismus wieder Regierungslinie ist. Im Februar trat der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, Antonio Tajani von der Berlusconi-Partei Forza Italia, nahe Triest bei einer Gedenkveranstaltung an einem Mahnmal für die Italiener auf, die im Zweiten Weltkrieg von jugoslawischen Partisanen getötet wurden.

"Es lebe das italienische Istrien, es lebe das italienische Dalmatien", rief er, was bei den Regierungen von Slowenien und Kroatien, zu denen die Regionen heute gehören, gar nicht gut ankam. Tajani entschuldigte sich, im Internet aber kochten die Emotionen noch lange nach; Melita Sciucca bekam auf Facebook Kommentare zu lesen wie: "Ich bedaure, dass mein Großvater damals seine Waffe aus der Partisanenzeit vergraben hat."

Ihren Dichter D'Annunzio aber will sich Melita Sciucca auf keinen Fall nehmen lassen. Mit ihren Schülern liest sie bis heute in jeder Klasse dessen ersten Roman "Il piacere", und das Gedicht "La Pioggia nel Pineto", die geradezu musikalische Schilderung eines Sommerregens. "Was für eine reine, klare Sprache er gebraucht hat - es ist wunderbar."

Eigentlich wollte sie am 12. September, dem hundertsten Jahrestag des Einmarsches, im alten Gouverneurspalast eine Veranstaltung organisieren: eine Buchpräsentation eines gerade in Italien neu erschienenen Werkes, dessen Autor argumentiert, D'Annunzio sei kein Faschist gewesen. "Aber da haben mir selbst die Leute aus dem italienischen Außenministerium gesagt: Lass es lieber, nicht ausgerechnet an diesem Datum."

Ärger gibt es nun stattdessen etwa 80 Kilometer nordwestlich von Rijeka, unmittelbar hinter des slowenisch-italienischen Grenze: Die Stadt Triest will zum hundertjährigen Jubiläum der Eroberung von Fiume eine Statue von D'Annunzio einweihen. Der Dichter, sitzend, in ein Buch vertieft. Die linke Opposition in der Stadt hat bereits Unterschriften dagegen gesammelt, der Bürgermeister von Rijeka hat sich dem Protest angeschlossen. Melita Sciucca findet das "absurd", sagt sie: "In Triest gibt es auch eine Statue von Kaiserin Sisi. Warum nicht eine von D'Annunzio?"

Tea Perinčić, die kroatische Historikerin, sagt dagegen: "Das ist doch so anachronistisch. Was genau wollen die Triester damit ausdrücken? Es macht mich wirklich wütend."

© SZ vom 07.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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