Sexuelle Gewalt:Studie: Mindestens 2200 Missbrauchsopfer in evangelischer Kirche

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"Das Gesamtbild hat mich doch zutiefst erschüttert": Bischöfin Kirsten Fehrs, amtierende Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), bei der Entgegennahme der Missbrauchsstudie. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Diese Zahl sei aber nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs", heißt es in einer umfassenden Untersuchung sexualisierter Gewalt in Kirche und Diakonie. Ein Vertreter der Betroffenen spricht von einem "Beben", eine andere fordert, der Staat müsse eingreifen.

Von Kassian Stroh

Sexualisierte Gewalt hat es in der evangelischen Kirche in größerem Ausmaß gegeben als bislang angenommen. Ein von der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) beauftragtes Forscherteam hat seine Studie vorgestellt, in der von mindestens 2225 Betroffenen und 1259 mutmaßlichen Tätern die Rede ist. Das sei jedoch nur die "Spitze der Spitze des Eisbergs".

Die amtierende Ratsvorsitzende der EKD, Bischöfin Kirsten Fehrs, sagte: "Das Gesamtbild hat mich doch zutiefst erschüttert." Die Kirche nehme in Demut diese Studie an. Sie habe sich auch als Institution an vielen Menschen schuldig gemacht, sie habe Strukturen, die Täter schütze, und sie habe beim Schutz der Opfer und beim Umgang mit ihnen eklatant versagt. Die Studie sei ein Auftrag, das Problem aufzuarbeiten.

Die sogenannte "ForuM"-Studie ist die erste umfassende zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und in der Diakonie. Für sie wurden dem Forschungsverbund Akten zur Verfügung gestellt. Die Wissenschaftler durften jedoch nicht die Personalakten aller Pfarrer und Diakone auswerten, sondern in erster Linie Disziplinarakten. Fälle, die vertuscht und nicht disziplinarisch verfolgt wurden, bekamen sie also nicht zu Gesicht - die Forscher kritisierten am Donnerstag deutlich, dass die Kirchen hier die Vereinbarungen nicht eingehalten hätten.

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Trotzdem unternehmen die Autoren der Studie einen Versuch, das wahre Ausmaß des Missbrauchs zu beziffern. Gefunden haben sie in den Akten 1259 Beschuldigte - 40 Prozent von ihnen sind Pfarrer, nahezu alle männlich - und 2174 Opfer. In einer einzigen der 20 Landeskirchen konnten sie aber nicht nur die Disziplinarakten, sondern alle Personalakten einsehen. Beim Vergleich habe sich ergeben, dass 57 Prozent der Beschuldigten und 74 Prozent der Opfer in den Disziplinarakten gar nicht auftauchen, heißt es in der Studie. Wenn man dies auf die gesamte evangelische Kirche in Deutschland hochrechne, komme man sogar auf knapp 3500 Beschuldigte und mehr als 9300 Opfer. Diese Hochrechnungen müssten aber "mit großer Vorsicht betrachtet werden", schreiben die Wissenschaftler.

Bislang zählte die EKD 858 Betroffene sexuellen Missbrauchs - dies sind aber nur Personen, die auch einen Antrag auf Anerkennungsleistungen gestellt haben.

Der Betroffenenvertreter Detlev Zander erwartet nun ein "Beben", wie er sagt. Die Illusion, dass es Fälle sexualisierter Gewalt in großem Ausmaß nur in der katholischen Kirche gegeben habe, sei "ab dem heutigen Tag nicht mehr zu halten". Zander gehört dem Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an; als Kind und Jugendlicher wurde er in einem evangelischen Heim bei Stuttgart missbraucht.

"Es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für die Betroffenen kein Gegenüber"

Die Wissenschaftler legten großen Wert darauf, nicht nur Zahlen aus Akten zu erheben, sondern viel mit den Betroffenen zu sprechen. Katharina Kracht, die, wie sie erzählte, als Jugendliche von einem verheirateten Pfarrer missbraucht wurde, gehörte dem Beirat des Forschungsverbundes an - und sie beklagte, dass die Landeskirchen Nachforschungen behinderten. So blieben "Täter im Dunkeln". Krachts Forderung: "Wir brauchen hier eine Verantwortungsübernahme des Staates. Denn es zeigt sich immer wieder, die Kirche ist für die Betroffenen kein Gegenüber." Sie liefen bei ihr häufig gegen "Gummiwände".

Katharina Kracht, Vertreterin der Betroffenen und Mitglied im Beirat des Forschungsverbundes. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Professor Martin Wazlawik aus Hannover, der das Forschungsprojekt koordinierte, riet der evangelischen Kirche, ehrlich auf sich selbst zu blicken und "weniger in der idealistischen Selbsterzählung zu bleiben". Lange habe sie sich vorgemacht, dass es ein großes Missbrauchsproblem bei ihr nicht geben könne, da sie ja partizipativ und demokratisch verfasst sei. Wazlawik warf ihr eine "reaktive Aufarbeitung" vor, sie sei nahezu nie von sich aus aktiv geworden. Problematisch seien zudem manche Strukturen, etwa die föderale Aufteilung in Landeskirchen, die Verantwortung verschleiere und die einheitliche Standards erschwere - und sei es nur beim Umgang mit Personalakten. Auch die besondere Stellung der evangelischen Pfarrer als Autoritätspersonen und ihrer Pfarrhäuser hätten Missbrauch begünstigt, da sich die Täter sicher fühlen konnten, wie Wazlawik sagte.

Die "ForuM"-Studie wurde im Jahr 2020 von der EKD initiiert und finanziert. Sie sollte typisch evangelische Strukturen analysieren, die Gewalt und Machtmissbrauch begünstigen. Als Dachorganisation von 20 Landeskirchen vertritt die EKD bundesweit gut 19 Millionen Christinnen und Christen.

Eine umfassende Studie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche wurde 2018 vorgelegt, die sogenannte MHG-Studie. Nach Auswertung von fast 40 000 Personalakten aus den Jahren 1945 bis 2014 wurden 1670 katholische Priester und Diakone beschuldigt, denen 3677 Kinder und Jugendliche als Betroffene zugeordnet werden konnten. Die Wissenschaftler nannten das "eine untere Schätzgröße". Vergleichbar sind die beiden Studien aber kaum - zum einen, weil die katholische Kirche alle Personalakten vorlegte, die Datengrundlage also eine andere war. Die MHG-Studie untersuchte zum anderen nur die Taten von Priestern, Diakonen und männlichen Ordensleuten. Die "ForuM"-Studie blickte auch auf die Beschäftigten der Diakonie, also aller kirchlichen Hilfswerke in Deutschland, sowie die Ehrenamtlichen in den evangelischen Landeskirchen.

Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, epd und KNA

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