Im Jahr 2010 diskutiert ganz Deutschland über den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche. Im Januar werden die Fälle am Berliner Jesuiten-Gymnasium Canisius-Kolleg öffentlich, es folgen Kloster Ettal, die Regensburger Domspatzen. Ermutigt von den Berichten, melden sich immer mehr Betroffene auch aus anderen katholischen Einrichtungen oder Gemeinden.
Im Februar 2010 streitet sich die damalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger öffentlich via "Tagesthemen" mit dem damaligen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Robert Zollitsch, über den mangelhaften Aufklärungswillen der katholischen Kirche. Der stellt ihr wütend ein Ultimatum, beschwert sich bei Bundeskanzlerin Angela Merkel über das unbotmäßige Verhalten der Ministerin. Wie man heute rückblickend weiß, hat Zollitsch selbst Missbrauch vertuscht.
In der evangelischen Kirche ist es zu jener Zeit noch ganz still - bis zum 12. Juli 2010, als der Spiegel einen Artikel veröffentlicht mit dem Titel "Die Küsse eines Hirten". Er handelt von einem Pfarrhaus in Ahrensburg bei Hamburg, von einem Pfarrer und von seinen Stiefsöhnen, an denen er sich jahrelang vergeht. Der Spiegel kann zeigen, dass die damalige Hamburger Bischöfin Maria Jepsen seit 1999 von den Übergriffen wusste und nichts unternahm. Nur sechs Tage später tritt Maria Jepsen zurück, als erste Bischöfin in Deutschland. Bis der erste katholische Bischof wegen Verfehlungen im Umgang mit sexualisierter Gewalt zurücktritt, dauert es bis zum März 2023: Da legt Franz-Josef Bode in Osnabrück sein Amt nieder.
Auf Maria Jepsen folgt Kirsten Fehrs - sie ist bis heute Bischöfin in Hamburg und macht das Thema sexueller Missbrauch zu "ihrem Thema": Sie wird Beauftragte für sexualisierte Gewalt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD); Fehrs gibt außerdem eine unabhängige Studie über Missbrauch in der Nordkirche in Auftrag, die im Oktober 2014 veröffentlicht wird. Der Tenor: Der Fall Ahrensburg sei kein Einzelfall gewesen, weitere Missbrauchsfälle im kirchlichen Umfeld seien jahrelang vertuscht worden.
Doch bundesweit hat diese Erkenntnis keine Folgen, verschwindet das Thema "Missbrauch in der evangelischen Kirche" erst einmal wieder in der Versenkung. Die Öffentlichkeit ist vor allem mit der katholischen Kirche beschäftigt - und bei den Protestanten scheint mancher nicht unglücklich darüber.
Erst nach dem Jahr 2018 bewegt sich wieder etwas, es ist ein weiterer Wendepunkt in der Missbrauchsaufarbeitung: Ein Konsortium aus drei Forschungsinstituten in Mannheim, Heidelberg und Gießen veröffentlicht die katholische MHG-Studie - es ist jener Moment, an dem nun auch die evangelische Kirche steht. Zum ersten Mal werden systematisch Akten der katholischen Diözesen gesichtet und bundesweite Daten zu Tätern und Opfern veröffentlicht. Die MHG-Studie kommt damals auf 3677 Betroffene und 1670 Täter, monatelang diskutieren Kirchenvertreter, katholische Laien und die Gesellschaft über die Schlüsse aus der Studie. Sie mündet schließlich in einen Reformprozess namens "Synodaler Weg".
Im November 2018 trifft sich das oberste evangelische Kirchenparlament wieder zur alljährlichen Synode, diesmal in Würzburg. Kirsten Fehrs hält dort eine Ruck-Rede zum Umgang der Protestanten mit sexualisierter Gewalt, und die Synode beschließt einen Elf-Punkte-Plan zum Umgang mit sexualisierter Gewalt und Missbrauchsformen in der evangelischen Kirche.
Lange heißt es, die evangelische Kirche sei weniger anfällig für Missbrauch
Dieser sieht unter anderem die Gründung eines zuständigen Beauftragtenrats vor, dessen Sprecherin Fehrs wird. Zudem wird die Errichtung der Anlaufstelle "Help" beschlossen. Doch die Notwendigkeit flächendeckender Aufarbeitungsbemühungen scheint nicht überall gleichermaßen anzukommen: Der frühere EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber sagt noch 2018 in einem Interview, die evangelische Kirche sei einfach "weniger anfällig für Missbrauch".
Ein Jahr später, es ist wieder Synode, wird eine wissenschaftliche Studie ausgeschrieben - die katholische MHG-Studie ist da schon ein Jahr alt. Ein Betroffenenrat sei in Planung, heißt es. Bei der nächsten Synode 2020, die wegen Corona digital stattfindet, vergisst man dann glatt, Betroffene einzuladen. Immerhin wird jetzt endlich ein Betroffenenrat einberufen - doch das Gremium ist nicht von langer Dauer. Fünf der zwölf Mitglieder treten aus, sie beklagen eine fehlende Unterstützung durch die EKD. Die wiederum macht kurzen Prozess und stoppt das Gremium ganz - unter Protest der Betroffenen. Einmal mehr fühlen sie sich bevormundet und gegängelt.
Im Juli 2022 nimmt schließlich ein sogenanntes Beteiligungsforum die Arbeit auf, es soll den Betroffenenrat ersetzen. Allerdings beraten in diesem Gremium Kirchenvertreter und Betroffene gemeinsam, auch das löst Kritik aus: Geht es den Kirchenleitenden darum, die Deutungshoheit zu behalten? Warum bekommen Betroffene keinen eigenen geschützten Raum nur für sich?
Aufarbeitungskommissionen gibt es bei der evangelischen Kirche bis heute nicht
Die evangelischen Kirchen loben sich vor allem für ihre Präventionsarbeit - doch beim Blick zurück, also in Sachen Aufarbeitung, passiert weiterhin nicht viel. In der katholischen Kirche unterzeichnen im April 2020 die Deutsche Bischofskonferenz und der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung eine gemeinsame Erklärung und verpflichten sich darin auf bundeseinheitliche Standards, auf Aufarbeitungskommissionen, Gutachten, auf die Beteiligung von Betroffenen.
Auch mit der evangelischen Kirche verhandelt der Missbrauchsbeauftragte Johannes-Wilhelm Rörig - doch die Gespräche verlaufen zäh, eine Einigung lässt auf sich warten. Erst im Dezember 2023, inzwischen ist Rörig im Ruhestand und Kerstin Claus seine Nachfolgerin, kommt die Erklärung zustande. Aufarbeitungskommissionen gibt es im Raum der evangelischen Kirche bis heute nicht.
Dafür tritt mehr als 13 Jahre nach Maria Jepsen im November 2023 wieder eine evangelische Bischöfin zurück: Annette Kurschus, EKD-Ratsvorsitzende. Ihr wird vorgeworfen, von sexuellen Übergriffen eines Mitarbeiters gewusst und nichts unternommen zu haben.