Euthanasie in der NS-Zeit:Das Kindermordhaus

Euthanasie in der NS-Zeit: Unnütz für die Volksgemeinschaft: 772 Stelen mit einem Lichtpunkt erinnern an die in der Heilanstalt "Am Spiegelgrund" ermordeten Kinder.

Unnütz für die Volksgemeinschaft: 772 Stelen mit einem Lichtpunkt erinnern an die in der Heilanstalt "Am Spiegelgrund" ermordeten Kinder.

(Foto: imago stock&people)
  • Edith Sheffer hat ein ungeheuerliches, fantastisches Buch geschrieben, in dem sie erklärt, wie das Menschenbild der Nazi-Zeit medizinische Diagnosen bis heute prägt.
  • Zunächst aber nimmt sie dem Wiener Kinderarzt Hans Asperger seine Strahlkraft und hebt stattdessen die braunen Flecken in seiner Biografie hervor.
  • Denn Sheffers Recherchen zeigen: Der auch nach dem Krieg überaus erfolgreiche Asperger schickte junge Patienten in der NS-Zeit wissentlich in eine Euthanasie-Anstalt.

Rezension von Astrid Viciano

Was für eine Enttäuschung. Als ob ein alter Freund uns verraten hätte, wir ihm die Maske vom Gesicht gezerrt und darunter eine Fratze entdeckt hätten.

Der Wiener Kinderarzt Hans Asperger galt Jahrzehnte lang als Fürsprecher der Schwachen, manche sahen in ihm einen Oskar Schindler der Psychiatrie, einen Retter in der NS-Zeit. Im Jahr 1981, kurz nach seinem Tod, wurde sogar das Asperger-Syndrom nach ihm benannt, eine Form von Autismus.

Im April 2018 fiel die schöne Maske des Kinderarztes, und damit steht auch seine Diagnose in neuem Licht. Ein Grund dafür ist Edith Sheffers Buch "Aspergers Kinder - Die Geburt des Autismus im Dritten Reich", das nun auf Deutsch erschienen ist.

Auf mehr als 300 Seiten fließen fachliche Expertise und persönliche Erfahrungen der Historikerin von der Stanford Universität zusammen, Sheffer kennt sich mit deutscher Geschichte aus und ist Mutter eines Sohnes mit Autismus.

Daher zeichnet sie nicht etwa eine grobe Skizze vom Leben des Arztes; sie malt ein detailreiches Bild davon, wie Mediziner wie Asperger dem Nazi-Regime halfen, das Menschsein neu zu definieren und zu sortieren. Wer für die Gesellschaft taugte oder nicht, musste entschieden werden, erklärt Sheffer. Besonders der Psyche widmeten die Nationalsozialisten große Aufmerksamkeit, die Diagnosen von Ärzten wie Asperger entschieden daher oft über Leben und Tod.

Ein ungeheuerliches, mutiges, fantastisches Buch hat Sheffer geschrieben. Denn sie erklärt, wie das Menschenbild der Nazi-Zeit medizinische Diagnosen bis heute prägt. "Jeder Student der Medizin und der Psychologie sollte dieses Buch lesen", empfiehlt der bekannte klinische Psychologe Simon Baron-Cohen von der Universität Cambridge.

Zunächst aber nimmt Sheffer dem Wiener Doktor seine Strahlkraft, Seite für Seite, als würde sie ein Licht dimmen, und hebt stattdessen die braunen Flecken in seiner Biografie hervor. Asperger selbst hatte stets berichtet, dass er während der NS-Zeit unberührt vom politischen Geschehen seiner Forschung nachgegangen war und die Diktatur abgelehnt hatte.

Edith Sheffer dagegen beschreibt, wie Hans Asperger sich schon in den 1930er Jahren unter einem Chefarzt mit nationalsozialistischer Gesinnung profilierte. Viele Mitarbeiter der Kinderklinik, vor allem jüdische Ärzte, wurden entlassen. Einige von ihnen wanderten in die USA aus, eine Kollegin brachte sich um.

Asperger dagegen übernahm die Leitung der heilpädagogischen Abteilung, im Alter von nur 28 Jahren. Während in den Straßen Wiens bald jüdische Geschäfte brannten - dort waren die Pogrome besonders schlimm - machte der junge Pädiater an der Universitätsklinik Karriere.

Das Ziel der Heilpädagogik in Wien war, sämtliche Aspekte der Gesundheit und der Psyche eines Kindes zu betrachten, ebenso wie die familiären Hintergründe anzusehen. Ziel war es, die Gemeinschaftsfähigkeit der Kinder zu fördern. Doch die Grenzen zwischen sozialen und medizinischen Diagnosen waren schon vor Aspergers Antritt stark verwischt.

Wenn ein Kind zum Beispiel als verwahrlost bezeichnet wurde, dann vernachlässigten es seine Eltern vielleicht, genauso gut konnte die Diagnose aber bedeuten, dass es krank war oder in seinen kognitiven Fähigkeiten eingeschränkt.

Manche Patienten hielt er für kleine Genies, andere für "automatenhaft schwachsinnig"

Förderten die Ärzte ihre kleinen Patienten vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten eher mit Nachsicht und Mitgefühl, sortierten sie später unerbittlich jene Kinder aus, die für die "Volksgemeinschaft" keinen Nutzen versprachen. Wie die Nazi-Ideologie die Medizin veränderte, beschreibt Sheffer hier sehr eindrücklich.

Der Autismus selbst war als eigenständige Diagnose damals noch unbekannt. Der Begriff wurde im Jahr 1911 von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler eingeführt, aber für Patienten mit Schizophrenie verwendet, die keine Beziehung zu ihrer Außenwelt herstellen konnten.

Hans Asperger aber, ebenso wie übrigens der in Österreich-Ungarn geborene Arzt Leo Kanner, verwendeten Autismus zum ersten Mal zur Beschreibung einer eigenständigen Diagnose. Im Jahr 1944 veröffentlichte Asperger seine Doktorarbeit, darin bezeichnete er die Betroffenen als "autistische Psychopathen".

Hans Asperger

Hochangesehen bis zum Schluss: Hans Asperger im Jahr 1971.

(Foto: picture alliance / IMAGNO/Votava)

Manche von ihnen hielt er wegen ihrer hohen Intelligenz für Genies und hob ihren Nutzen für die Gemeinschaft hervor, sie würden später Berufe wie Techniker, Chemiker oder Mathematiker ergreifen können. Anderen, minderbegabten Kinder mit Autismus sprach er dagegen die Menschlichkeit ab, sprach von "automatenhaft Schwachsinnigen".

Was die Sichtweise der Nationalsozialisten auf den Menschen widerspiegelte, erklärt Sheffer. Seine Differenzierung zwischen Kindern mit verschiedenen Formen von Autismus hatte also nicht, wie lange vermutet, mit Empathie und Menschenfreundlichkeit zu tun. Was für ein absurdes Missverständnis. Intoleranz statt Toleranz. Ausgrenzung statt Inklusion.

400 Kinderhirne im Keller der Anstalt in Gläsern verwahrt

Nach Überzeugung der Nationalsozialisten mussten sich Individuen als Bestandteil der Gemeinschaft fühlen, damit das deutsche Volk langfristig überleben konnte. Der soziale Zusammenhalt war eines der faschistischen Ideale. Mentale und emotionale Normen wurden entwickelt. Schon geringfügige Verhaltensabweichungen einzelner Menschen öffneten das Tor zu neuen Diagnosen.

Damit zeichnet Sheffer ein genaues wie ungeheuerliches Bild davon, wie sehr gerade Mediziner unter den Nationalsozialisten dazu beitrugen, Menschen auszusortieren und zu töten. Asperger ist für sie ein prominentes Beispiel für jene Ärzte, die sich mit dem Regime arrangierten und versuchten, sich nicht die Hände schmutzig zu machen, aber auch nicht dagegen rebellierten.

Asperger war weder ein überzeugter Gegner noch ein fanatischer Anhänger der Nazis. Er war gläubiger Katholik und trat der NSDAP nie bei. Sein Verhalten aber sei exemplarisch für das Abdriften etlicher Menschen in die Mittäterschaft.

Welche Auswirkungen das für manche seiner Patienten hatte, erklärt sie in ihrem Buch, immer und immer wieder. Als würde sie auf immer unterschiedlichen Pfaden stets auf das gleiche Ziel zusteuern, münden ihre Erläuterungen immer aufs Neue in eine Aussage: Hans Asperger habe Kinder wissentlich in den Tod geschickt. Er sei in die Überweisung von mindestens 44 jungen Menschen in die Anstalt "Am Spiegelgrund" verwickelt gewesen, schreibt sie.

In den Jugendstilpavillons der Nervenheilanstalt am Rande Wiens wurden von Juli 1940 an Kinder aufgenommen, die aus Sicht der Nationalsozialisten keinen Nutzen für die Gesellschaft hatten.

Und Asperger arbeitete mit den führenden Köpfen des Kindereuthanasieprogramms zusammen. Am 15. August wurden die ersten umgebracht, im Pavillon Nummer 15 der Anstalt. Dort rührte ihnen das Pflegepersonal hochdosierte Barbiturate, Schlafmittel, ins Essen oder die Getränke, als Folge der Medikamente erkrankten die geschwächten Kinder an einer Lungenentzündung. Viele von ihnen starben daran, weil die Ärzte und Krankenpfleger die Infektionen nicht behandelten.

Andere Patienten verhungerten langsam und qualvoll. Hier beruft sich Sheffer auch auf die Forschungsarbeit des Wiener Medizinhistorikers Herwig Czech, der vor ein paar Monaten dazu einen Fachartikel veröffentlicht hat. "Aspergers Beschreibungen dieser Kinder fielen härter aus als die des Personals der Anstalt" schreibt er.

Der Kinderarzt selbst aber war an der Universitätsklinik tätig, nicht "Am Spiegelgrund". Er verabreichte keine todbringenden Medikamente. Vielleicht ahnte Asperger ja nicht, wohin er die Kinder schickte? Das schließt Sheffer aus: Im Oktober 1945 sagte einer der ehemaligen Leiter der Anstalt vor Gericht aus, dass Asperger ebenso wie seine Kollegen an der Wiener Universitätsklinik genau wussten, was die jungen Patienten erwartete.

Sheffer nimmt sich in ihrem Buch die Zeit, im Detail auf zwei Kinder einzugehen, die von Asperger persönlich in die Anstalt überwiesen wurden. Gerade diese Details machen die Stärke ihres Buchs aus, sie zwingen den Leser hinzusehen und mitzufühlen, zum Beispiel mit der fünfjährigen Elisabeth Schreiber.

Nach einer Hirnentzündung konnte das Mädchen nicht mehr sprechen, wird jedoch in den Akten als freundliches, anhängliches Wesen beschrieben. Das hielt die Ärzte nicht davon ab, zusätzlich zur Gabe der Schlafmittel auch Rückenmarkspunktionen bei ihr vorzunehmen, vermutlich als medizinische Experimente. Nach ihrem Tod wurde ihr Gehirn zum Teil einer Sammlung von insgesamt 400 Kinderhirnen, im Keller der Anstalt in Gläsern verwahrt.

Aspergers Tätigkeit unter dem Nationalsozialisten beeinträchtigte seine Karriere nicht

Hans Asperger stieg nach dem Zweiten Weltkrieg nach ein paar Jahren zum Chefarzt der Universitätskinderklinik in Wien auf, er hatte damit landesweit die wichtigste Position seines Fachbereichs inne. Seine Tätigkeit unter dem Nationalsozialisten hatte keinerlei Folgen für ihn und seine Karriere, über Jahrzehnte lang konnte er Medizinstudenten und junge Ärzte prägen, bis in die 1960er Jahre waren die Hörsäle in Wien gut gefüllt, wenn Asperger Vorlesung hielt.

Und es ist Historikern wie Edith Sheffer und auch Herwig Czech zu verdanken, dass sich der Blick auf Wiener Kinderarztes endlich verändert. In der neuesten Auflage des amerikanischen Diagnosemanuals DSM-5 kommt das Asperger-Syndrom bereits nicht mehr vor, aus wissenschaftlichen Gründen. Auch aus den Lehrbüchern dürfte der Name des Kinderarztes nun bald verschwinden.

Sheffer mahnt aber, nicht zu vergessen. Wie gesellschaftliche und politische Kräfte medizinische Diagnosen prägen können. Und wie schwer es fallen kann, diesen Kräften zu widerstehen.

Edith Sheffer: Aspergers Kinder - Die Geburt des Autismus im "Dritten Reich". Campus, Frankfurt 2018. 356 Seiten, 29,95 Euro. E-Book: 25,99 Euro.

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