Europawahl: Es wird Streit geben

  • Etablierte Volksparteien verlieren bei der Europawahl kräftig, Rechtspopulisten gewinnen nicht so stark wie gedacht.
  • Die Grünen feiern vor allem in Deutschland einen großen Erfolg. Nicht so sehr im Rest Europas.
  • Im Europaparlament wird die Mehrheitsfindung schwieriger. Aber auch spannender.

Von Karoline Meta Beisel, Matthias Kolb und Alexander Mühlauer, Brüssel

1) Christdemokraten und Sozialdemokraten verlieren deutlich

Das Ergebnis in Deutschland steht in dieser Hinsicht für einen europäischen Trend: Christdemokraten und Sozialdemokraten haben jeweils einige Dutzend Mandate verloren und damit zum ersten Mal ihre gemeinsame absolute Mehrheit verloren. Die Gründe dafür unterscheiden sich natürlich von Land zu Land, aber im Allgemeinen haben die Volksparteien den Bezug gerade zu vielen jüngeren Wählern verloren. Der Kampf gegen den Klimawandel ist in Westeuropa das Thema, an dem sich dieser Trend am deutlichsten zeigt. In Ost- und Südeuropa steht es noch schlimmer um Sozial- und Christdemokraten: Sie sind mancherorts fast komplett verschwunden.

In den Fraktionen des neuen Europäischen Parlaments ergeben sich also womöglich Machtverschiebungen. Seit Monaten schwärmen Europas Sozialdemokraten von den Genossen in Portugal und Spanien, die dort an der Regierung sind. Der Trend setzt sich fort: Weil die Partei von Premier Pedro Sanchez die Wahl klar gewann und die SPD einbrach, stellt Spanien künftig die größte Delegation in der Gruppe der Sozialdemokraten. In der EVP-Fraktion sinkt die Zahl der deutschen Abgeordneten - mit viel Selbstbewusstsein werden etwa die Österreicher auftreten. Wenn es um die Verteilung der Top-Jobs geht, wird dies berücksichtigt werden - mit Udo Bullmann und Manfred Weber führen momentan zwei Deutsche die Fraktionen an.

2) Die Wahlbeteiligung nützt den Spitzenkandidaten

In den kommenden Stunden und Tagen beginnt das Gefeilsche um die wichtigsten Ämter - neben den Chefposten für Europäischen Rat und Europaparlament geht es vor allem um den Kommissionspräsidenten. Hierauf erheben vor allem die Spitzenkandidaten Manfred Weber und Frans Timmermans Anspruch - doch die Ergebnisse ihrer Parteifamilien sind keine guten Argumente dafür. Während die Sozialdemokraten in den Niederlanden dank Timmermans auf Platz eins landeten, hat Weber der CSU in Bayern nicht geschadet, aber der CDU nicht geholfen.

Was beiden Männern - und auch all jenen, welche über das Spitzenkandidaten-Prinzip die Rechte des Europaparlaments stärken wollen - hilft, ist aber die gestiegene Wahlbeteiligung. Alle Politiker, die in Brüssel vor die Kameras traten, lobten, dass so viele Menschen an die Urnen gegangen sind. Und alle appellierten an die Staats- und Regierungschefs, die sich am Dienstagabend in Brüssel treffen werden: Ignoriert das Votum der Wähler nicht. Die Gründe für die hohe Wahlbeteiligung dürften allerdings sehr unterschiedlich sein. Die einen trieb sicher die Wut über den Brexit zur Wahl, andere die Steuerflucht von Amazon und Co. Wieder andere sorgen sich um die Folgen der Klimaerwärmung oder treibt der Wunsch nach besserem Schutz der Außengrenzen um. So können sich alle Bürger freuen, wenn Europa mehr Beachtung findet.

3) Grüne Welle - und zugleich grüne Wüste

In Deutschland feiern die Grünen ein Rekordergebnis. Bundesweit sind sie die zweitstärkste Kraft geworden, in manchen Gegenden - in Schleswig-Holstein oder Hamburg zum Beispiel - haben sie sogar die CDU überholt. Für die deutschen Grünen im Europaparlament bedeutet das einen enormen Zuwachs. Auch anderswo haben die Grünen hinzugewonnen, etwa in Frankreich oder in Irland. Die grüne Fraktion im neuen Parlament wird den Hochrechnungen zufolge von bislang 52 Sitzen auf 67 Sitze anwachsen.

Dass es nicht mehr sind, liegt daran, dass die Grünen eben nicht überall stark sind. In manchen Ländern Europas spielen sie traditionell kaum eine Rolle. Daran hat sich auch mit dieser Wahl nicht viel geändert. Das gilt etwa für die meisten Ländern Osteuropas, aber auch in Italien oder Griechenland. Und weil für die Sitzverteilung im Europaparlament eben nicht nur Deutschland und Frankreich, sondern alle Länder zusammengerechnet werden, fällt der Anstieg dort nicht so stark aus, wie das deutsche Ergebnis vermuten lässt.

4) Die Euroskeptiker legen zu - aber nicht so stark wie befürchtet

Als "Schicksalswahl" war diese Europawahl oft bezeichnet worden, als epischer Kampf der Proeuropäer gegen die Anti-Europäer, welche die EU von innen zerstören wollen. Nun steht fest: Auch im nächsten Europaparlament, das sich am 2. Juli konstituiert, werden weit mehr als 100 Abgeordnete vertreten sein, die weniger Integration wollen und teils rechtsextreme Positionen vertreten. Doch auch wenn es etwa viele Deutsche schockieren mag, dass in Frankreich der rechtspopulistische Rassemblement National wohl mehr Stimmen hat als die Partei von Präsident Emmanuel Macron: Im Vergleich zu 2014 (24,8 Prozent) hat die Partei von Marine Le Pen an Zustimmung verloren. Auch das Ergebnis der AfD in Deutschland ist längst nicht so gut wie es noch vor Monaten vorausgesagt wurde.

In Italien kommt die rechtsnationalistische Lega auf 34 Prozent der Stimmen. Und natürlich zeigt das starke Abschneiden der nationalpopulistischen Parteien in Polen und Ungarn, wie erfolgreich permanente EU-Kritik sein kann. Aber auch hier gilt: Im Vergleich zu 2014 hält sich der Zuwachs in Grenzen. Grund zur Entwarnung gibt es aus Sicht überzeugter Europäer nicht - aber auch nicht zur Panik.

5) Das Parlament wird fragmentierter - und politischer

Wie es aussieht, stellt die Europäische Volkspartei (EVP) weiter die stärkste Fraktion im Europaparlament. Doch ob diese Tatsache allein genügt, um den Machtanspruch für das Amt des Kommissionspräsidenten geltend zu machen? Sozialdemokraten, Liberale, Grüne und andere linke Kräfte werden in den kommenden Tagen alles dafür tun, um der EVP das Leben schwer zu machen. Gelingt es ihnen, eine "progressive Mehrheit" gegen die Christdemokraten zu organisieren, könnte sich das Machtgefüge in Brüssel dramatisch ändern.

Aber selbst, wenn Christdemokraten, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne zusammenarbeiten sollten, die Zeit der gemeinsamen Mehrheit von EVP und Sozialdemokraten ist vorbei. Das Europäische Parlament ist ein Abbild der heterogenen und fragmentierten Gesellschaften in den EU-Staaten. Damit wird die Mehrheitsfindung zwar schwieriger, das Parlament dürfte aber weitaus politischer werden. Und das ist ja nicht die schlechteste Nachricht in dieser Wahlnacht: Es wird künftig wieder mehr gestritten werden in Straßburg und Brüssel.

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