Europäische Union:"Zutiefst besorgt" - und ratlos

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Die EU-Kommission rätselt, wie sie Polen zum Einlenken bewegen kann. Ein Druckmittel gäbe es, aber dazu gehört Mut.

Von Matthias Kolb, Brüssel

Eigentlich könnte man in der EU-Kommission zufrieden sein: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am Donnerstag der Klage der Behörde gegen Polens Landesjustizrat zur Disziplinierung von Richtern in allen Punkten stattgegeben. Bereits zum dritten Mal wird bestätigt, dass die umstrittene polnische Justizreform mit EU-Recht unvereinbar ist. Das spricht für die Expertise der Juristinnen und Juristen der Kommission. Komplizierter sind die politischen Probleme. Ähnlich wie bei Ungarn führt das Artikel-7-Verfahren wegen Verstößen gegen EU-Grundwerte in Polen zu keinem Umdenken. Für echte Sanktionen bräuchte es Einstimmigkeit, doch Budapest und Warschau schützen und stützen sich gegenseitig.

Noch am Dienstag hatte sich Ministerpräsident Mateusz Morawiecki in Brüssel mit Ursula von der Leyen getroffen. Die ließ per Tweet verbreiten, worüber beide "einen guten Austausch" gehabt hätten: Neben dem Klimapaket, das bis vor kurzem noch "Fit for 55" hieß, und dem Corona-Aufbaufonds ging es auch um "Fragen der Rechtsstaatlichkeit". Dominiert habe das Thema aber nicht, heißt es. Die Zögerlichkeit der CDU-Politikerin erklärt sich auch dadurch, dass viele Projekte der Kommission nur mit den Mitgliedstaaten umsetzen lassen - und diese polnische Regierung droht gern und effektiv mit ihrem Veto. Am Donnerstag meldet sich für die Kommission Vizepräsidentin Věra Jourová zu Wort, die das Urteil aus Luxemburg begrüßt. Ihre Reaktion endet mit einem Satz, der in der EU eigentlich selbstverständlich sein sollte: "Das EuGH-Urteil muss vollständig respektiert und umgesetzt werden."

Dies würde für Warschau bedeuten, den Vorrang des europäischen vor nationalem Recht zu akzeptieren. Doch daran zweifeln immer mehr Fachleute und EU-Abgeordnete. "Polen steht mit einem Bein außerhalb der europäischen Rechtsgemeinschaft", sagt die frühere Bundesjustizministerin Katarina Barley, die für die SPD im Europaparlament sitzt. Sie nennt den Luxemburger Richterspruch "ein erneutes Stoppschild gegen den Rechtsstaatsabbau der PiS-Regierung in Polen". Barley kritisiert scharf das am Mittwoch getroffene Urteil des polnischen Verfassungsgerichts, wonach Anordnungen des EuGH bezüglich der Disziplinarkammern nicht befolgt werden müssten.

Darauf reagiert die Kommission mit routinierten Floskeln: Man sei "zutiefst besorgt", erklärt Chefsprecher Eric Mamer, und werde das Urteil sorgfältig analysieren. Bisher liegt es nicht schriftlich vor. Er versichert, dass die Kommission als "Wächterin der Verträge" nicht zögern werde, den Vorrang des EU-Rechts durchzusetzen. Intern heißt es, dass man alle rechtlichen Vorgaben und Fristen genau einhalten und abwarten müsse, ob Polen nicht doch das EuGH-Urteil umsetze.

Justizkommissar fürchtet "Zerstörung" der EU

Dass das von Morawiecki angestrebte Grundsatzurteil des nicht mehr unabhängigen Verfassungsgerichts, ob polnisches Recht vor EU-Recht stehe, nun verschoben wurde, wird von einigen so gedeutet, dass PiS vor der letzten Eskalation zurückschreckt. Denn was auf dem Spiel steht, wissen alle. Justizkommissar Didier Reynders wählte das Leitmedium Financial Times für seine Warnung, dass solche nationalen Alleingänge die EU "zerstören" könnten. Regeln und Gesetze müssten in allen Mitgliedstaaten gleich angewandt werden, betont der Belgier. Das für den heutigen Donnerstag angekündigte Grundsatzurteil nannte er eine "echte Gefahr für die gesamte Architektur unserer Union".

Sollte Morawiecki Recht bekommen und das Primat des EuGH angezweifelt werden, gilt ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen als unvermeidbar. Auch die Klage der Kommission gegen die Bundesregierung vor dem EuGH wegen des EZB-Urteils vom Mai 2020 wird gegenüber Reportern und EU-Diplomaten damit begründet, in dieser Frage kompromisslos aufzutreten.

Die SPD-Abgeordnete Katarina Barley fordert zum wiederholten Mal, dass die EU-Kommission nun endlich zu Maßnahmen greift, die der rechtskonservativen Regierung finanziell schmerzen: "Für jeden weiteren Tag, an dem die Disziplinarkammern ihr Unwesen treiben, sollte sie saftige Strafzahlungen verhängen." In Brüssel wird zudem darauf verwiesen, dass die Kommission den polnischen Corona-Wiederaufbauplan noch nicht freigegeben hat. Im Fall Ungarns hat die Behörde darauf verwiesen, dass für eine korrekte Verwendung der Fördergelder und zum Schutz vor Betrug auch die Kontrolle durch unabhängige Gerichte nötig sei. Man werde, so betont Sprecher Eric Mamer, das jüngste Warschauer Urteil "auch unter diesen Gesichtspunkten" prüfen.

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