Für Ursula von der Leyen sind die letzten Tage gut gelaufen. In der New York Times sicherte die Präsidentin der EU-Kommission zu Wochenbeginn zu, dass geimpfte US-Amerikaner im Sommer als Touristen nach Europa reisen können. Am Mittwoch beschrieb die Zeitung, wie die Medizinerin per Telefon und SMS mit Pfizer-Chef Albert Bourla aushandelte, dass die EU bis 2023 bis zu 1,8 Milliarden weitere Corona-Impfdosen von Biontech/Pfizer erwerben kann. "Sie kannte alle Details über die Virusmutationen, sie kannte Details über alles", sagte Bourla über die Deutsche.
Dass ihr auch die britische Ausgabe der Vogue ein Porträt widmete, lag jedoch an der Rede, die von der Leyen am Montag im Europaparlament gehalten hatte. Überschrieben war die Sitzung mit "Schlussfolgerungen des Europäischen Rates und Ergebnis des Treffens zwischen der EU und Türkei", doch die CDU-Politikerin sprach grundsätzlich über Grundrechte und Sofagate. "Ich bin die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission", sagte sie zu Beginn. Dann beschrieb sie ihre Gefühle, als sich Anfang April in Ankara EU-Ratspräsident Charles Michel und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan auf zwei Sesseln niederließen und ihr ein Sofa blieb: "Ich fühlte mich verletzt und alleingelassen. Als Frau und als Europäerin."
Sie ist überzeugt, dass sie nicht so behandelt worden wäre, "wenn ich Anzug und Krawatte getragen hätte". Der Auftritt machte Schlagzeilen, weil eine Spitzenpolitikerin selten so offen spricht und von der Leyen forderte, auch etwas gegen die Diskriminierung all jener Frauen zu tun, die weniger privilegiert sind als sie und nicht gehört würden.
In Brüssel rechnen viele damit, dass die Rivalität zwischen von der Leyen und Michel weitergeht - und es wächst die Sorge, dass die EU auf globaler Bühne geschwächt wird. "Sie hat einen ehrbaren Kampf geführt, aber nicht aus Überzeugung, sondern aus Opportunismus", sagt ein EU-Diplomat. Nach dieser Lesart hielt von der Leyen die Diskussion am Köcheln und nutzte die Chance, ihre Position in Europas Machtgefüge zu stabilisieren. Im Europaparlament, wo ihr sonst nicht die Herzen zufliegen, erhielt sie viel Beifall - etwa für die Forderung nach mehr Frauen in Führungspositionen in allen EU-Institutionen. Mit "Heute sind wir alle Ursula" brachte der Katalane Carles Puigdemont die Stimmung auf den Punkt.
Michel braucht die Kommission, um etwas bewegen zu können
Dass Ratspräsident Michel durch diesen Fokus der Rede erneut unglücklich aussieht, nahm sie in Kauf. Der Belgier hatte in der Debatte darauf verwiesen, dass er sich schon bei allen öffentlich entschuldigt habe, die sich "angegriffen" gefühlt hätten. Er betonte, dass die Kommission keine Protokollbeamten nach Ankara geschickt habe und seine Leute den Saal nicht vorab sehen konnten. Doch das Beharren auf Formalien wirkt vorgeschoben. Gewiss: Im EU-Vertrag wird der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, vor der EU-Kommission genannt, woraus sich ein höherer protokollarischer Rang für Michel ableiten lässt.
Aber mitten in der Klimakrise und der Pandemie sollten Eitelkeiten zurückstehen, auch wenn der seit 2009 gültige Lissabon-Vertrag in der Außenpolitik beiden Präsidenten eine Rolle zuweist - genau wie dem EU-Außenbeauftragten. Weil es keine klaren Regeln gibt, seien Absprachen nötig. Der Vorfall in Ankara habe "der Glaubwürdigkeit beider Präsidenten sowie der EU insgesamt geschadet", urteilt François Roux. Der Belgier leitete bis Juni 2020 das Kabinett von Michel und sah den verunglückten Start des Duos aus nächster Nähe. Sofagate, so schreibt er in einer Analyse, habe "auf brutale Art" die Schwäche der EU-Außenpolitik offengelegt. Früheren Pärchen an der Spitze der EU sei es "sogar in Krisenzeiten" gelungen, ihre Uneinigkeiten intern zu lösen, urteilt Roux im Rückblick auf José Manuel Barroso und Herman van Rompuy sowie Jean-Claude Juncker und Donald Tusk.
Tusk nannte sich einst "Europas obersten Bürokraten", denn der Ratspräsident bereitet vor allem die EU-Gipfel vor, während die EU-Kommission über 30 000 Beamte verfügt und viele Milliarden verteilt - und das Corona-Wiederaufbaupaket steigert von der Leyens Einfluss. "Es ist leicht für die Kommission, ihn kaltzustellen", sagt eine Diplomatin. Die Außenpolitik ist eines der wenigen Felder, wo Michel im Rampenlicht stehen kann. Doch ohne eigenes Budget braucht er die Kommission, um etwas bewegen zu können - und die Unterstützung der Regierungen.
Dort hält sich der Unmut über die kleinlichen "Kriege der Präsidenten um die Macht", die das Magazin Politico gerade dokumentiert hat. Als die Kabinettschefs von Michel und von der Leyen Mitte April im Botschaftergremium zu Gast waren, wurde ihnen klargemacht, dass ihre Chefs "eine vernünftige und belastbare Form der Zusammenarbeit" finden müssten, wie ein Diplomat es formuliert. Diese Absicht hätten sowohl von der Leyen als auch Michel, wird versichert. Politico hob hervor, dass sich keine der sieben Botschafterinnen zu Sofagate äußerte. Hingegen mahnten einige der 20 männlichen Botschafter, dass die Rivalität nicht außer Kontrolle geraten dürfe. Dies deutet an, wie stark die eigene Erfahrung die Perspektive prägt. "Sie ist eine kluge Frau, die einem wichtigen Thema Öffentlichkeit verschafft", sagt eine EU-Diplomatin. Es sei weder von der Leyens Schuld, wenn es Michel an Sensibilität fehle, noch ein Vergehen, die eigene Überzeugung zum politischen Vorteil einzusetzen.
In Brüssel fürchten manche, dass Sofagate die Beziehungen zur Türkei belasten könnte. Das Außenministerium in Ankara nannte am Mittwoch erneut die "Planlosigkeit und Nachlässigkeit" der EU als Grund für den Eklat. Die Sitzordnung habe nichts mit von der Leyens Rolle als Frau, als Europäerin oder dem Ausstieg der Türkei aus der Istanbul-Konvention zu tun, teilte Sprecher Tanju Bilgiç mit: "Es ist sinnlos, in dieser Sache eine Absicht oder Böswilligkeit zu suchen." EU-Diplomaten sagten der SZ, dass die türkische Seite "die geringste Schuld" trage. Zudem wäre eine gezielte Bloßstellung von der Leyens kontraproduktiv, da Ankara für den Zugang zu EU-Programmen auf die Behörde angewiesen ist. Auch aus von der Leyens Umfeld war nach dem Treffen mit Erdoğan zu hören, dass es bei ihren Besuchen als Verteidigungsministerin in der Türkei nie Probleme gegeben hatte.