Janis Emmanouilidis ist Studiendirektor am European Policy Centre (EPC) in Brüssel. Er leitet dort das Programm für Europapolitik und europäische Institutionen Außerdem berät er verschiedene europäische Regierungen, Institutionen und NGOs zu Fragen der europäischen Integration.
SZ: Wenn man durch die Brüsseler Institutionen läuft, wirken Beamten und Politiker ziemlich niedergeschlagen. Nehmen Sie das auch so wahr?
Jannis Emmanouilidis: Das Maß an Frustration ist hoch. Nicht nur wegen der Flüchtlingskrise. Die EU geht seit fünf, sechs Jahren durch eine schwierige Zeit: Euro-Krise, Ukraine, der drohende Brexit. Wir haben nichts davon überwunden, sondern noch mehr Krisen hinzubekommen. Man merkt die Depression auch bei den politisch Verantwortlichen. Und dann gibt es auf nationaler Ebene so viele negative Entwicklungen, die auch mit der EU zusammenhängen: in Frankreich, Ungarn, Polen. Das ergibt ein Gefühl der Ohnmacht.
Ist die EU überfordert? Oder stimmt ihre Struktur nicht?
Es ist eine Mischung. Natürlich war die EU auf diese Krisen nicht vorbereitet. Sie ist ein großes, schwer zu steuerndes Schiff, ein Apparat, der immer hinterherhinkt. Gleichzeitig sind die Probleme extrem komplex. Man hat stets viel auf die EU geladen: alles, was man zu Hause nicht erledigen konnte. Das war eine Überforderung.
In Teilen schließen sich die EU-Staaten nun eng zusammen: Bei der Euro-Politik und den Plänen für einen gemeinsamen Grenzschutz. Der Status quo ist offenbar keine Option mehr.
Durchwurschteln war in den vergangenen Jahren immer der grundsätzliche Ansatz der EU - nicht das strategische Denken, der große Wurf. Durchwurschteln ist wohl auch das beste, was wir derzeit erwarten können. Das System steht unter hohem Druck - immerhin ist der Schengen-Raum in Gefahr. Und man versucht, das Erreichte zu verteidigen. Es gibt Fortschritte, die allerdings immer Kompromisse darstellen: den Euro-Stabilitätsmechanismus, eine Art Bankenunion, vielleicht bald die neue Form der Grenzsicherung. Sollten wir die Situation in den Griff bekommen, wird keine Energie bleiben, um noch wesentlich darüber hinaus zu gehen.
Sollte man sich bei der EU also von jeglicher Idealvorstellung verabschieden?
Man sollte realistisch bleiben, nicht zu viel verlangen. Ich habe Sympathie für die Idee, jetzt alles in großer Geste zusammenzulegen und Europa ein substantielles Budget zu geben, um die Probleme meistern zu können. Aber mein Realismus weiß: Das ist derzeit nicht drin. Es geht ja schon die Angst um, dass wir eine Vertragsreform brauchen, um den Wünschen der Briten zu entsprechen, und dass wir sie nicht durchbekommen. Andererseits: einen Schritt zurückgehen, sich auf das Wesentliche konzentrieren, eine Art Binnenmarkt de luxe, das will auch keiner außer den Briten. Man weiß nicht, wohin man gerät, wenn man zurückrudert. Oder wenn man die vermeintlich einfachen Lösungen anstrebt: Euro-Zone ohne Griechenland, Zäune bauen.
Reicht es wirklich, sich immer durchzulavieren?
Die Union spaltet sich jedenfalls immer stärker auf, wie die Flüchtlingskrise zeigt. Ob sich das auf Dauer zusammenhalten lässt, weiß ich nicht.
Ein Weg zurück müsste aber möglich sein: wenn man zum Schluss käme, sich mit einem Projekt wie dem Euro überhoben zu haben, oder wenn die Streitereien ausufern.
Ich glaube, dass man immer gerade so weit geht, wie man muss, um zu retten, was man hat. Man wusste vor Jahren von den Konstruktionsfehlern des Euro, hat aber nichts gemacht. Aber nun zu sagen: 'Es funktioniert nicht, dann lassen wir das eben mit dem Euro', das könnte unabsehbare Folgen haben und andere Bereiche mit beschädigen, auch weil sich dann schnell die Schuldfrage stellt. Vermutlich wäre nicht einmal der Binnenmarkt zu halten.
Denkbar ist, dass sich je nach Interessen und Werten Clubs bilden in der EU. Einige gibt es schon: Nord und Süd beim Euro, die Freunde von Mini-Schengen, die Osteuropäer. Die könnten unterschiedlich eng zusammenarbeiten.
Vielen Akteuren ist bewusst, dass man die Büchse der Pandora nicht öffnen sollte, weil man sie sonst nicht mehr schließen kann. Der Gedanke eines Kerneuropas - wenn also etwa die Euro-Länder erheblich weiter gingen als der Rest - lässt auch außer Acht, dass es große Unterschiede sowohl zwischen den Euro-Ländern gibt als auch zwischen den anderen. Dieses Modell funktioniert also auch nicht.
Entsteht in dieser Krisenzeit das Gefühl, dass man eine Schicksalsgemeinschaft bildet, auf Gedeih und Verderb?
Das ist die andere Seite der Medaille: Wir wissen nun, wie stark wir voneinander abhängen. Aber das heißt nicht, dass auch das Richtige getan wird: eine echte Bankenunion schaffen, eine vertiefte Wirtschaftsunion. Man muss ja auch die Bevölkerung dabei mitnehmen, Referenden gewinnen, was derzeit sehr schwierig wäre. Bleibt nur zu hoffen, dass der Kitt, der uns verbindet, eine Implosion verhindert.
Könnte der Ärger, den die Europäer derzeit miteinander haben, nur die Oberfläche sein, unterhalb derer sie trotzdem zusammenwachsen?
Wenn die Europäer tatsächlich beieinander blieben, würden sie die EU künftig jedenfalls weniger infrage stellen. Vor zehn, 15 Jahren hieß es, man müsse die Bürger nur vom Mehrwert der EU überzeugen, um sie dafür zu gewinnen. Das stimmt noch. Neu ist, dass auch die Eliten - politische, wirtschaftliche, intellektuelle - das europäische Projekt anzweifeln, und zwar stark.
Offenbar braucht man das Negative immer wieder, um das Positive zu erkennen. In früheren Zeiten lösten sich solche Spannungen in Kriegen auf.
Die Geschichte ist voller Entwicklungen, die niemand für möglich gehalten hatte. Andererseits: Das Titanic-Szenario, ein totaler Untergang dessen, was wir EU nennen - das kann ich mir noch nicht einmal vorstellen. Ausschließen sollte man es aber auch nicht, schon um sich des Preises bewusst zu werden, den das fordern würde.
Reden die Europäer jetzt wenigstens mehr miteinander, nicht nur die Regierungschefs, sondern auch die Bürger?
Die europäische Öffentlichkeit ist größer geworden, Europa-Themen sind viel präsenter in der Debatte. Allerdings fast immer nur im nationalen Kontext. Eine transnationale Diskussion, zwischen den Staaten, gibt es immer noch kaum.
Das ist auch nicht leicht.
Das muss sich entwickeln, man muss es lernen, auch forcieren. In der Euro-Krise wurde mehr über- als miteinander geredet.
Viele haben Angst, in Europa ihr nationales Gehäuse zu verlieren, ihre Identität.
Muss es das bedeuten? Muss man das eine im anderen auflösen? Ich komme aus Bayern; die Bayern haben sich nie irgendwo aufgelöst und werden das auch nicht tun. Texaner fühlen sich in den USA immer als Texaner. In föderalen Staaten kann man beides miteinander verbinden. Natürlich gibt es sprachliche, kulturelle, historische Barrieren. Aber in der jungen Generation haben viele kein Problem damit, über die Grenzen hinaus zu denken, zu diskutieren, zu feiern. Auch wenn das natürlich nicht die Mehrheit ist.
Sie sind also vorsichtig optimistisch, das ist derzeit fast die schwierigere Haltung.
Wenn man sich der Frustration hingibt, tut das weder einem selbst noch dem Ganzen gut. Man hat auch etwas gelernt: Noch zur Jahrtausendwende war Kritik an der EU gar nicht erlaubt. Das hat sich glücklicherweise geändert. Konstruktive Kritik hilft. Nur populistische nicht.