Um 22.36 Uhr schickt die tschechische Regierung die erlösende Nachricht über Twitter: Ungarns Blockade wichtiger EU-Vorhaben ist beendet; außerdem gibt es eine Einigung beim Streit um Rechtsstaatlichkeit und Fördergelder. Die Tschechen führen noch bis Jahresende die Geschäfte im EU-Ministerrat, und am Montagabend trafen sich die EU-Botschafter der Mitgliedstaaten in Brüssel, um gleich mehrere schwierige Entscheidungen im Paket zu fällen. Wäre das nicht gelungen, hätte der Disput den EU-Gipfel am Donnerstag belastet.
Konkret verständigten sich die Mitgliedstaaten darauf, Ungarn im Prinzip Zugriff auf die Milliarden aus dem Corona-Hilfsfonds zu gewähren - wenn auch unter harschen Bedingungen. Zugleich sollen aber 6,3 Milliarden Euro Fördermittel für das Land eingefroren werden, wegen der grassierenden Korruption. Grundlage ist der neue Rechtsstaatsmechanismus für den Haushalt; er wird jetzt erstmals angewandt: eine brisante Premiere. Die EU-Kommission hatte allerdings vorgeschlagen, sogar 7,5 Milliarden Euro zurückzuhalten. Die Einigung unter den Botschaftern muss nun von den Hauptstädten im schriftlichen Verfahren bestätigt werden, doch das ist eine Formalie.
Ungarns Regierung wiederum bedankt sich für das Entgegenkommen beim Corona-Fonds, indem sie ihre Vetos gegen zwei wichtige Brüsseler Vorhaben zurückzieht: die versprochene Budgethilfe an die Ukraine von 18 Milliarden Euro für 2023 und die Einführung einer Mindeststeuer für Konzerne von 15 Prozent. Mit ihr setzt die EU einen Teil der Jahrhundertreform der Unternehmensbesteuerung um, auf die sich 137 Staaten bei der Industrieländer-Organisation OECD geeinigt haben.
Die Mitgliedstaaten haben nun bis Ende 2023, um die Steuer in nationales Recht zu gießen. Sie soll das Geschäftsmodell von Steueroasen erschweren. Denn die Regelung bestimmt, dass für Gewinne großer Unternehmen - mit einem Umsatz von 750 Millionen Euro oder mehr - in der EU immer ein Steuersatz von mindestens 15 Prozent gilt. Zahlt ein europäischer Konzern zunächst weniger Steuern, weil er Gewinne in Steueroasen verschiebt, darf der Fiskus im Heimatstaat hinlangen und so viel nachversteuern, bis die 15 Prozent erreicht sind.
Der autoritär regierende ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat aber ausgenutzt, dass bei der Mindeststeuer und den Ukraine-Hilfen Einstimmigkeit nötig ist. Er wollte mit seinen Vetos seine Verhandlungsposition verbessern beim Streit um den Rechtsstaatsmechanismus und den Corona-Fonds.
Brüssel beklagt seit Jahren Missstände
Die EU-Kommission beklagt seit Jahren in Ungarn Korruption, autoritäre Tendenzen sowie den Abbau von Rechtsstaat und Medienfreiheit. Der Rechtsstaatsmechanismus zielt allerdings ausschließlich auf solche Missstände ab, derentwegen EU-Gelder in den falschen Taschen landen könnten. Gefährden diese Defizite die ordnungsgemäße Verwendung, kann Brüssel Fördermittel zurückhalten. Im April eröffnete die Behörde das Verfahren gegen Ungarn; im September drohte Haushaltskommissar Johannes Hahn, 7,5 Milliarden Euro einzufrieren, wenn Orbán nicht bis 19. November 17 Reformen umsetzt, die den Kampf gegen Korruption und Vetternwirtschaft verbessern.
Die Kürzung betrifft drei EU-Hilfsprogramme für benachteiligte Regionen. Diese unterstützen zum Beispiel den Bau von Straßen, Klärwerken und Kinderhorten. Insgesamt soll Ungarn bis 2027 mehr als 34 Milliarden Euro an Regionalförderung erhalten oder als Agrarsubvention.
Vor zwei Wochen stellte Hahn fest, dass die 17 Versprechen unzureichend erfüllt worden seien. Daher schlug er den EU-Finanzministern vor, die Milliarden tatsächlich zurückzuhalten. Die Minister mussten diese Entscheidung jedoch mit einer sogenannten qualifizierten Mehrheit treffen, was in etwa einer Zweidrittelschwelle entspricht. Und ob diese erreicht werden kann, galt als unsicher. Manche ost- und südosteuropäische Regierung zögerte, weil sie fürchtet, selbst einmal wegen Korruptionsproblemen ins Visier des Mechanismus zu geraten.
Deshalb beschlossen die Minister vorige Woche, dass Hahn eine aktualisierte Einschätzung vorlegen soll, welche positiven Entwicklungen Ungarns Regierung seit dem Stichtag 19. November angestoßen hat. Das Kalkül: Dies könnte eine Begründung liefern, die Strafsumme zu senken, und so die Chancen einer Annahme erhöhen. Am Freitag schickte der österreichische Haushaltskommissar dann einen fünfseitigen Brief plus zehnseitigen Anhang an die Regierungen. Hahn bestätigt dort, dass es neue Initiativen gab, hält aber fest, dass sich die negative Einschätzung der Behörde selbst "im Lichte der jüngsten Gesetzesanpassungen, die in Ungarn vorgenommen wurden, nicht geändert hat".
Orbán muss Reformen umsetzen, wenn er Geld will
Die Kommission tat den EU-Regierungen also nicht den Gefallen, die vorgeschlagene Strafe zu verringern. Trotzdem dienten die Hinweise auf neue Initiativen im Brief offenbar als Begründung dafür, dass die EU-Botschafter der Mitgliedstaaten von sich aus den Betrag senkten - und dann am Montagabend in Brüssel eine ausreichend große Mehrheit für das Einfrieren fanden.
Der wichtigste Hebel der EU-Regierungen im Streit mit Orbán war allerdings der Zugang zum Corona-Hilfsfonds. Ungarn war der einzige EU-Staat, dessen Reform- und Ausgabenplan für den Unterstützungstopf noch nicht gebilligt worden war. Dort warten 5,8 Milliarden Euro an Zuschüssen bis Ende 2026, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Nicken die EU-Regierungen den Plan aber nicht bis Jahresende ab, verfallen 70 Prozent der Zuschüsse.
Die Kommission schlug vor, das Konzept anzunehmen, doch dafür hätte es keine Mehrheit gegeben, wenn Orbán nicht am Montagabend seine Vetos gegen die Ukraine-Hilfe und die Mindeststeuer zurückgezogen hätte. So aber wurde der Plan gebilligt. Das bedeutet freilich nicht, dass sofort Geld fließt. Auf Druck der Kommission sieht der Plan vor, dass Ungarn 27 umfassende Reformen umsetzen muss, um die Unabhängigkeit der Justiz und den Kampf gegen Korruption zu stärken. Erst wenn die ungarische Regierung diese "Super-Meilensteine" erreicht, darf die Behörde Tranchen überweisen.
Ungarn hat zwölf Milliarden Gründe einzulenken
Das Beispiel Polen zeigt, wie schwierig es sein kann, trotz abgenickten Plans an die Milliarden zu kommen: Die Regierung in Warschau hat sich bereits im Juni mit der Kommission auf den Reform- und Investitionsplan für den Corona-Topf verständigt. Das Dokument schreibt als Meilensteine Reformen vor, um die Unabhängigkeit der Justiz zu stärken. Ähnlich wie bei Ungarn beklagt die Brüsseler Behörde hier große Defizite. Bislang ist es der nationalkonservativen Regierung jedoch nicht gelungen, diese Zwischenziele zu erreichen - und von den 22,5 Milliarden Euro an Zuschüssen aus dem Hilfsfonds ist noch nichts geflossen. Zuletzt hieß es aber aus der Kommission, dass sich Warschau bewegt und eine Lösung nahe sein könnte.
Würde Ungarn wirklich die geforderten Reformen umsetzen und alle 27 Super-Meilensteine erreichen, würde das zugleich die Bedenken ausräumen, dass in dem Land Fördergelder veruntreut werden. Und damit könnte Budapest auch die 6,3 Milliarden Euro loseisen, die Brüssel wegen des Rechtsstaatsmechanismus vorerst einfriert.
Orbán hat jetzt gut zwölf Milliarden Gründe, den Vorgaben Brüssels endlich nachzukommen. Ob er es tatsächlich machen wird, ist die andere Frage.