Brüssel und Ankara:Da weiß man, was man hat

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Die EU-Grenzschutzagentur Frontex ist vor allem im Mittelmeer aktiv, hier im Februar 2020 vor der griechischen Insel Lesbos. (Foto: Michael Varaklas/AP)

Die EU gratuliert dem türkischen Präsidenten Erdoğan zur Wiederwahl. Realpolitisch betrachtet ist dessen Sieg zumindest bequem. In Brüssel hofft man, dass das Flüchtlingsabkommen reaktiviert wird.

Von Josef Kelnberger, Brüssel

Mit bemerkenswerter Freundlichkeit haben die Spitzen der Europäischen Union dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan zur Wiederwahl gratuliert. Sie freue sich darauf, "die EU-Türkei-Beziehung weiter auszubauen", verbreitete Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf Twitter. Ratspräsident Charles Michel schrieb als Vertreter der 27 EU-Regierungen fast gleichlautend, man wolle die Beziehungen "vertiefen". Es klingt fast nach Sarkasmus.

In bester Erinnerung ist noch, wie Erdoğan bei einem Treffen in Ankara im April 2021 Michel und von der Leyen blamierte. Er ließ für das offizielle Foto den Belgier neben sich auf einem Sessel platzieren, die Deutsche aber auf einem Sofa, als gehörte sie zum Rahmenprogramm. Die Affäre namens "Sofagate" hat Ursula von der Leyen gekränkt und auch ihr Verhältnis zu Charles Michel dauerhaft beschädigt.

Auch abgesehen von dem diplomatischen Zwischenfall leistet Erdoğan kaum etwas, das man nach den demokratisch-rechtsstaatlichen Prinzipien der EU "ausbauen" oder "vertiefen" könnte. Er unterdrückt die Opposition, er lässt Medienschaffende ins Gefängnis sperren, er pflegt gute Beziehungen zum Kriegsherrn Wladimir Putin, er überzieht die EU immer wieder mit beleidigender Rhetorik und schreckt auch vor Erpressung nicht zurück. Aber realpolitisch betrachtet ist der Wahlsieg Erdoğans für die Europäische Union zumindest bequem. Man weiß, was man hat.

Debatten über eine EU-Mitgliedschaft will gerade niemand führen

Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu verkörperte auch in den Institutionen der EU die Hoffnung auf eine demokratischere Türkei. Andererseits machten sich in den vergangenen Wochen in Brüssel die Diplomaten bereits Gedanken, wie man einem möglichen Wahlsieger Kılıçdaroğlu entgegenkommen könnte, ohne wieder Debatten über eine EU-Mitgliedschaft der Türkei zu wecken. Die will derzeit niemand in Brüssel führen. Schon die Frage, wie schnell die Ukraine und die Staaten des Westbalkans an die EU herangeführt werden könnten, bietet genügend Konfliktstoff im Kreis der 27 Mitgliedstaaten.

Die Türkei ist nach wie vor offizieller Beitrittskandidat der Europäischen Union. Die Verhandlungen wurden 2005 eröffnet und liegen endgültig auf Eis, seit Erdoğan nach der Niederschlagung des Militärputsches im Jahr 2016 die Türkei zu einem zunehmend autokratischen Staat umbaute. Wer schuld ist an der Entfremdung, darüber gibt es verschiedene Meinungen.

Die einen glauben, Erdoğan habe niemals ernsthaft an eine Beitrittsperspektive geglaubt und nur aus Gründen des Machterhalts seinen ursprünglich demokratisch-europäischen Kurs geändert. Die anderen glauben, die Europäer hätten nur halbherzig verhandelt. Als Wendepunkt gilt jedenfalls ein Staatsbesuch des damaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy im Jahr 2011. Sarkozy teilte, kaugummikauend und am Rande der Unverschämtheit, dem Gastgeber mit, was damals die deutsche Kanzlerin Angela Merkel nicht offen auszusprechen wagte: Ein Beitritt der Türkei komme nicht infrage. Erdoğan war schwer beleidigt.

De facto funktioniert das Flüchtlingsabkommen nicht mehr

Symptomatisch für das Verhältnis zwischen der EU und der Türkei ist das im Jahr 2016 geschlossene Migrationsabkommen: Eine Hand wäscht die andere. Erdoğan verpflichtete sich, Fluchtrouten abzuriegeln und Migranten, die dennoch über die Türkei irregulär in die EU gelangt waren, zurückzunehmen. Die EU verpflichtete sich im Gegenzug, syrische Flüchtlinge aus türkischen Lagern regulär nach Europa einreisen zu lassen - und zwar genauso viele, wie man wegen irregulärer Einreise nach Europa in die Türkei zurückschickt. Als Prämie für den Deal erhielt Erdoğan von der EU sechs Milliarden Euro.

Schmutziger Deal oder wegweisendes Konzept, um das Sterben im Mittelmeer zu beenden? Auch hier gehen die Meinungen auseinander. De facto funktioniert das Abkommen nicht mehr, weil Erdoğan sich weigert, geflüchtete Menschen zurückzunehmen, im Gegenteil: Vor zwei Jahren öffnete er die türkischen Grenzen für Flüchtlinge, die nach Europa wollten. Die Grenze zur Türkei mit ihren Mauern und Zäunen und den überfüllten Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln steht sinnbildlich für eine europäische Migrationspolitik, die Erdoğan immer wieder maliziös "unmenschlich" nennt.

Sein Herausforderer Kılıçdaroğlu machte Wahlkampf mit dem Versprechen, Millionen syrischer Flüchtlinge aus der Türkei zu verbannen. Das löste erhebliche Unruhe in der EU aus, die ohnehin schon mit stark steigenden Flüchtlingszahlen zu tun hat. Im Verhältnis zu Erdoğan gibt es wenigstens die Hoffnung, das Migrationsabkommen lasse sich mit noch mehr Milliarden Euro wiederbeleben. Das ist es möglicherweise, was Ursula von der Leyen und Charles Michel mit "Ausbauen" und "Vertiefen" der Beziehungen meinen.

Ähnlich freundliche Töne kamen aus der Bundesregierung. Sprecher Steffen Hebestreit berichtete am Montag, Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe Erdoğan telefonisch nach Berlin eingeladen, um sich "früh zu gemeinsamen Schwerpunkten abzustimmen", etwa zu der Entwicklung im östlichen Mittelmeer und zu dem Verhältnis der Türkei zur Europäischen Union.

Hoffnung mag auch den Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei seinem Glückwunsch an Erdoğan getrieben haben: "Ich freue mich, unsere Arbeit zusammen fortzusetzen und den Nato-Gipfel im Juli vorzubereiten", schrieb Stoltenberg auf Twitter. Nach wie vor blockiert Erdoğan den Nato-Beitritt Schwedens. Irgendein Deal sollte sich in der Frage finden lassen bis zum Spitzentreffen des Bündnisses in Vilnius.

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