Die Kritik kam prompt, und sie war harsch. Giftig sogar. Kaum hatte der Umweltausschuss des Europaparlaments am Dienstag das neue EU-Naturschutzgesetz abgelehnt, hagelte es wütende Presseerklärungen. Abgeordnete der Grünen und der Sozialdemokraten warfen dem Vorsitzenden der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), dem deutschen CSU-Politiker Manfred Weber, vor, "mit Rechtspopulisten und Rechtsextremen" zu paktieren und die "Nähe zu Rechtsnationalen und Rechtsradikalen" zu suchen. Weber, so kritisierte Rasmus Andresen, der Sprecher der deutschen Grünen im Europaparlament, "flirtet mit nationalistischen und europafeindlichen Parteien", schwäche die "Brandmauer gegen rechts" und schade Europas Demokratie.
Tatsächlich hatten Webers EVP-Leute in dem Ausschuss gegen das Gesetz votiert. Und tatsächlich stimmten auch die Parlamentarier der rechtspopulistischen Fraktion EKR und der rechtsextremen Fraktion ID gegen die Vorlage. Allerdings lehnten auch der deutsche FDP-Politiker Andreas Glück und andere Liberale das Gesetz ab. Ihnen blieb der Vorwurf, Steigbügelhalter der rechtsradikalen EU-Feinde zu sein, jedoch erspart.
Die Parteien positionieren sich für die Europawahl
Das wiederum lässt darauf schließen, dass zumindest ein Teil der Empörung weniger mit einem Votum in einem Ausschuss zu tun hatte als mit dem beginnenden Europawahlkampf. Zwar ist es noch fast ein Jahr hin, bis die Bürgerinnen und Bürger der EU über ihre neuen Abgeordneten abstimmen können. Aber die Positionierung der Parteien für den Wahltag - und die Zeit danach, wenn die Spitzenposten der EU vergeben werden - hat schon angefangen. Webers Zusammenarbeit mit Politikern und Parteien, die deutlich weiter rechts stehen als er und die EVP, sind Teil dieser Positionierung. Gleiches gilt für harte Kritik an diesem, wie der Grüne Andresen es nennt, "Flirt" mit den Rechten.
Um Webers Strategie zu verstehen, reicht zum einen ein Blick auf die politische Landkarte der EU: In mehreren Ländern haben in den vergangenen Monaten konservative Parteien die Regierung übernommen oder stehen davor - von Italien über Schweden und Finnland bis Spanien. Doch entweder gehören diese neuen Regierungen nicht Webers gemäßigter EVP-Parteienfamilie an, oder sie tun es, sind aber auf die Hilfe einer weiter rechts stehenden Partei angewiesen.
So ist die Partei der von Weber ganz besonders umworbenen italienischen Premierministerin Giorgia Meloni, die scharf rechten Fratelli d'Italia, im Europaparlament Teil der rechtspopulistischen Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR). In Stockholm und Helsinki regieren Ministerpräsidenten, deren Parteien zwar zur EVP zählen, die sich aber auf zwei EKR-Parteien stützen müssen: Schwedendemokraten und Wahre Finnen. In Madrid könnte sich nach der Wahl im kommenden Monat eine ähnliche Koalition aus Bürgerlich-Konservativen und Rechtspopulisten ergeben.
Weber kann Umfragen lesen - und sich auf Trends einstellen
Diese Entwicklung kann Weber kaum ignorieren. De facto folgt er mit seiner Öffnung gegenüber Parteien aus der EKR-Fraktion also auf europäischer Ebene einem politischen Rechtsruck, den es in der EU derzeit auf nationaler Ebene vielerorts längst gibt. Weber hat für die Zusammenarbeit mit rechteren Parteien lediglich drei Kriterien formuliert - deren Interpretation zudem weitgehend bei ihm liegt: Sie müssen proeuropäisch sein, sie müssen an der Seite der Ukraine stehen, und sie dürfen den Rechtsstaat nicht infrage stellen.
Diese Vorgabe grenzt die EVP in der Praxis nur noch gegen echte rechtsextreme und nationalistische Parteien wie die ungarische Fidesz, die polnische PiS oder den französischen RN von Marine Le Pen ab - und gegen die Alternative für Deutschland. Trotzdem gibt es bei den Unionsparteien in Deutschland, wo noch sehr viel von der "Brandmauer" gegen die AfD die Rede ist, offenes Unbehagen über Webers Kurs.
Zum anderen kann Weber, ein Niederbayer, dem niemand ernsthaft rechtsradikale Tendenzen unterstellen würde, Umfragen lesen. Und diese sagen für die Europawahl 2024 nach jetzigem Stand deutliche Verluste für die Parteien der politischen Mitte und Zuwächse für die Parteien am rechten Rand voraus. So könnte die EKR-Fraktion, je nach Prognose, um die 20 Sitze hinzugewinnen, während Grüne, Liberale sowie Sozial- und Christdemokraten zusammen um die 80 Sitze verlieren. Vor allem die Grünen könnten bei der Wahl Anfang Juni kommenden Jahres arg gerupft werden.
Die bisherige Mehrheit droht zu bröckeln
Damit wackelt die bequeme Mehrheit, die die EVP zusammen mit den Sozialdemokraten und den Liberalen im Europaparlament bisher hat. Sichere Mehrheiten wären nur noch mit der Grünen-Fraktion zu erreichen. Aber auf die will sich Weber nicht verlassen - ebenso wenig auf die Sozialdemokraten. Dieses Problem könnte für Weber schon gleich nach der Europawahl relevant werden. Denn eine der ersten Abstimmungen des neuen Parlaments wird die über die künftige Führung der EU-Kommission sein. 2019 bestätigte das Parlament nur mit sehr knapper Mehrheit die CDU-Politikerin Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin.
Zwar hält sich in Brüssel hartnäckig die Darstellung, Weber habe seiner Parteifreundin bis heute nicht verziehen, dass sie den Posten anstelle von ihm bekommen hat. Dass er aus persönlichen Gründen von der Leyens Wiederwahl sabotiert, ist jedoch unwahrscheinlich. Die deutschen Unionsparteien gehören der EVP an, für den CSU-Mann und EVP-Vorsitzenden Weber ist eine deutsche Kommissionschefin aus der CDU politisch höchst wertvoll - unabhängig davon, dass von der Leyens Politik im Alltag zuweilen eher den Vorstellungen der Grünen entspricht, vor allem beim Klima- und Naturschutz.
Sollte von der Leyen kommendes Jahr wieder für ihr Amt kandidieren und von den Staats- und Regierungschefs der EU nominiert werden, müsste Weber für sie daher eine zweite Mehrheit im Parlament organisieren. Im Vergleich zu 2019 werden für die Bestätigung aber mit großer Wahrscheinlichkeit die etwa 40 Stimmen der polnischen PiS-Abgeordneten und ungarischen Fidesz-Parlamentarier fehlen, denn von der Leyens Kommission hat den Regierungen in Warschau und Budapest wegen Korruptionsproblemen und Rechtsstaatsverstößen zig Milliarden an EU-Zuschüssen gesperrt. Für diese Voten muss Weber also Ersatz suchen. Ein Teil dürfte von den Grünen kommen. Der Rest? Vielleicht von weiter rechts.