Erster und Zweiter Weltkrieg in Osteuropa:Geteiltes Gedenken

Lesezeit: 4 min

Hinter der Ostfront 1942: Deutsche Soldaten durchsuchen einen 15-jährigen und ein 16-jährigen Jungen. Laut zeitgenössischer Bildunterschrift soll es sich um "Partisanen" handeln - ob das tatsächlich der Fall war, ist nicht mehr zu klären. Vermutlich sind die beiden Jugendlichen getötet worden. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Manche Wunden der Weltkriege im östlichen Mitteleuropa sowie den angrenzenden Gebieten Weißrusslands, der Ukraine und Südosteuropas bluten bis heute. Und bis heute sind diese Regionen, in der Symbolorte wie Sarajevo und Auschwitz liegen, ein Krisenareal, das abermals zum Schauplatz eines Krieges werden könnte.

Kommentar von Klaus Brill, Warschau

Es sind keine angenehmen Jubiläen: Vor genau 100 Jahren, in den ersten Tagen des August 1914, brach der Erste Weltkrieg aus. Und am 1. September werden 75 Jahre vergangen sein, seit Deutschland mit dem Überfall auf Polen 1939 den Zweiten Weltkrieg begann. Beide Ereignisse haben das Gesicht des europäischen Kontinents für immer verändert - und beide wirken bis heute nach.

Nirgendwo sind die Spuren so tief wie in jener europäischen Schicksalslandschaft, die in diesem schrecklichen Jahrhundert die tiefsten Umbrüche, die grausamsten Massaker und die schwersten Zerstörungen erlitten hat: dem östlichen Mitteleuropa sowie den angrenzenden Gebieten Weißrusslands, der Ukraine und Südosteuropas. Manche Wunden bluten dort bis heute, und bis heute ist diese Region, in der Symbolorte wie Sarajevo und Auschwitz liegen, ein Krisenareal, das abermals zum Schauplatz eines Krieges werden könnte.

Euphorie zu Beginn des Ersten Weltkriegs
:Wie Europa 1914 den Kriegsausbruch feierte

So jubelten die Menschen in vielen Großstädten Europas: Seltene Aufnahmen aus Wien, Berlin, Paris, München und Belgrad vom Sommer 1914, als der Kontinent in den Ersten Weltkrieg taumelte.

Aus dem Archiv von SZ Photo

An seinen Rändern liegen Deutschland und Russland, die beiden Hauptverursacher des Leids im 20. Jahrhundert. Sie waren bis zum Ersten Weltkrieg Nachbarn, nachdem sie sich bei den polnischen Teilungen die zwischen ihnen liegenden Gebiete einverleibt und den Süden der Habsburger Monarchie überlassen hatten. Der Kollaps der drei Kaiserreiche im Ersten Weltkrieg zog dann die Gründung elf neuer Staaten nach sich.

Diese Nationen erinnern sich zum Teil bis heute an die Jahre nach 1917 als einen erfreulichen Wendepunkt in ihrer Geschichte, an den sie 1989 - dem Jahr der zweiten Befreiung - anschließen konnten. Das gilt gewiss für Polen, die Tschechoslowakei, Litauen, Lettland und Estland.

107-Jähriger über Ausbruch des Ersten Weltkrieges
:"Der Kaiser war wie der liebe Gott"

Wilhelm II. ist mitverantwortlich für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, doch für Fritz Koch war der Kaiser ein friedfertiger Mensch. Besuch bei einem Zeitzeugen, der sich an die Monarchie in Deutschland erinnert - und an den Kriegsausbruch vor 100 Jahren.

Von Anna Günther

Den Ukrainern und Weißrussen werden die uneingeschränkte Unabhängigkeit und demokratische Selbstbestimmung indes auch nach 100 Jahren noch verwehrt. Und andere sind, historisch gesehen, im Rückwärtsgang unterwegs, so die Ungarn und jene Serben, die jetzt in Sarajevo dem Attentäter von 1914, Gavrilo Princip, ein Denkmal setzten.

Je nach Standort ergeben sich beim Rückblick auf das bluttriefende Säkulum also sehr unterschiedliche Perspektiven. Insgesamt genießt der Jahrestag des Ersten Weltkriegs in Mittel- und Osteuropa freilich nur beschränkte Aufmerksamkeit. Dies ist wohl auch dadurch bedingt, dass der Erste vom Zweiten Weltkrieg buchstäblich in den Schatten gestellt wurde. Zwar ging die Zahl der Opfer zwischen 1914 und 1918 auch in Galizien in die Millionen.

Die Befreiung von Auschwitz
:Das Ende des Holocaust

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Etwa 7000 Menschen befanden sich noch in dem Lager - für immer gezeichnet von den Gräueltaten der Nazis. Bilder von damals und heute.

Nichts aber reicht an jene apokalyptischen Gräueltaten heran, die von 1933 bis 1945 in den vom US-Historiker Timothy Snyder definierten Bloodlands verübt wurden. Dieses "Blutland" reicht von Zentralpolen bis Westrussland und schließt Weißrussland, die Ukraine und das Baltikum ein. "Mitten in Europa ermordeten das NS- und das Sowjet-Regime in der Mitte des 20. Jahrhunderts 14 Millionen Menschen", schreibt Snyder.

Hitlers Rassenhass auf Juden, Slawen und Roma kostete zwei Drittel dieser 14 Millionen Manschen das Leben. Der Rest geht auf das Konto von Stalin und dessen Klassenhass. Zu den Opfern des Sowjetdiktators zählten auch mehrere Millionen ukrainische Landbewohner, die zum Hungertod verurteilt wurden, dem sogenannten Holodomor.

In Deutschland ist es nicht üblich, die Verbrechen beider Despoten nebeneinanderzustellen, wenngleich dies aus Sicht der Opfer und von den Abläufen her als logisch erscheint. Im Historiker-Streit der Achtzigerjahre behielten diejenigen die Oberhand, die sich einer Relativierung der deutschen Schuld durch den Vergleich mit den Untaten des Sowjet-Regimes entgegenstemmten. Dies soll auch unverändert gelten: Was die Deutschen in Osteuropa taten und zuließen, darf nicht geschmälert werden.

Ein Nebeneffekt dieses richtigen Impulses war aber offenbar, dass viele Deutsche guten Gewissens die weitere Befassung mit Stalins Verbrechen unterließen. Über das komplizierte Geschehen in Mittel- und Osteuropa in der Ära der Extreme sind sie deshalb nur unzureichend im Bilde. Nur so konnte die Vorstellung um sich greifen, Russlands Präsident Wladimir Putin beanspruche mit einem gewissen Recht die Vorherrschaft über sein westliches Glacis. Sind Russen, Weißrussen und Ukrainer ("Kleinrussen") nicht slawische Brüder, so wie Polen, Tschechen, Serben und Bulgaren?

Der Panslawismus aber war eine Ausgeburt des romantischen Zeitalters. 1914 noch bewog er den Zaren zum Beistand für Serbien und setzte den Dominoeffekt der Bündnisverpflichtungen in Gang. Der politischen Wirklichkeit des 20. Jahrhunderts aber hielt er nicht stand, wie das Beispiel Jugoslawien zeigt. Die kulturellen und nationalen Traditionen sind zu unterschiedlich, angefangen bei der orthodox-katholischen Kirchenspaltung, die schon ein Jahrtausend zurückliegt und doch bis heute wirkt, etwa im Verhältnis Russlands zu Polen oder Serbiens zu Kroatien.

Für Osteuropa erfüllte sich das Freiheitsversprechen erst 1989

Überwiegend ging es in den vergangenen 100 Jahren in diesem Teil Europas vor allem um nackte Moskauer Machtpolitik und keineswegs um brüderliche Zusammenarbeit. Beim Blick auf das Jahr 1939 findet deshalb in Polen nicht nur der deutsche Einmarsch vom 1. September Beachtung, sondern auch Stalins Invasion aus dem Osten am 17. September - vor allem aber der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August, in dem Polen aufgeteilt und die baltischen Länder sowie große Teile der Ukraine und Weißrusslands dem Sowjet-Imperium zugeordnet wurden.

Erster Weltkrieg 1914
:"Deutschland und Österreich sind hauptverantwortlich"

Der Kriegsausbruch 1914 wurde in Berlin und Wien geplant, sagt die deutsch-britische Historikerin Annika Mombauer - und kritisiert Schwächen in Christopher Clarks Bestseller "Die Schlafwandler".

Von Oliver Das Gupta

Sie blieben dort bis 1989. Und eigentlich ist im Nachhinein dieses Jahr des Zusammenbruchs der UdSSR und der (weitgehend) friedlichen Revolutionen als wahre Wendemarke des Jahrhunderts zu sehen - und als Antwort auf 1914. Es schien sich zu erfüllen, was 1917 beim Kriegseintritt der USA deren Präsident Woodrow Wilson als Ziele benannte: Man kämpfe für die Demokratie, "für die Rechte und Freiheiten kleiner Nationen, für eine allgemeine Herrschaft des Rechts durch ein Zusammenspiel der freien Völker, das allen Nationen Sicherheit bringen und die Welt selbst endlich frei machen wird".

Ein schöner Traum, der 1989 realistisch wirkte, der aber heute wieder bedroht ist durch Großmachtgehabe, Säbelrasseln und Lügenpropaganda, wie man sie aus dem Jahr 1914 kennt. Die Lehre ist, dass den Frieden nur die Demokratie und die nachbarschaftliche Zusammenarbeit sichern können, wie sie in Form der EU ein historisches Modell gefunden haben. Alle Hoffnung ruht deshalb, wie 1918, auf der Selbstbestimmung der Völker und dem demokratischen Wandel - vor allem in Russland. Davon sind wir abhängig. Ohne kritischen Rückblick aber auf die eigene Geschichte ist ein solcher Umschwung kaum denkbar.

© SZ vom 02.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Kriegsausbruch 1914
:Mit Hurra ins große Gemetzel

Ein überstolzer Kaiser, jubelnde Soldaten, der Glaube an einen schnellen Sieg: Vor hundert Jahren begann der Erste Weltkrieg. Fotos aus dem Jahr 1914, als die Welt brannte und das alte Europa zerbrach.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: