Erste Runde der Präsidentschaftswahl in Frankreich:Revolution der Langweiler

Lesezeit: 3 min

Aus zehn Kandidaten können die Franzosen am Sonntag einen neuen Präsidenten wählen. Die besten Chancen hat ein biederer Durchschnittstyp - so groß ist die Sehnsucht nach Normalität nach einer Amtszeit mit dem egozentrischen Präsidenten Sarkozy. Allerdings befürchten auch viele, dass sich ein Albtraum nach genau zehn Jahren wiederholen könnte.

Lilith Volkert, Paris

Mit Revolutionen kennen sich die Franzosen aus. Gewöhnlich geht es dabei recht blutig zu, am Ende steht meist ein neuer Machthaber, der alles anders macht. Am besten größer, besser, ungewöhnlicher.

François Hollande
:Mit dem Rücken zur Wand

Reformstau, katastrophale Umfragewerte, Affären-Gerüchte: Für Frankreichs Präsidenten Hollande läuft es gerade in jeder Beziehung schlecht. Nun möchte er den Franzosen seine "Vision" für die kommenden Jahre vorstellen - doch die Presse interessiert sich vor allem für seine angebliche Geliebte.

Lilith Volkert

Im April 2012 ist das anders. Die Franzosen wollen einfach wieder ihre Ruhe haben, nicht mit Details aus dem Privatleben ihres Staatschefs belästigt werden, sich nicht vor den europäischen Nachbarn für ihren Präsidenten schämen - und auch keine unangenehmen Einschnitte hinnehmen müssen. Sie wünschen sich eine "Revolution der Normalität", konstatiert die Tageszeitung Le Monde einen Tag vor der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl.

So lässt sich die große Zustimmung für den Sozialisten François Hollande erklären, der in den letzten Umfragen je nach Institut knapp vor bzw. gleichauf mit Amtsinhaber Nicolas Sarkozy liegt. Dem aber für die Stichwahl ein deutlicher Vorsprung von acht Prozent vorausgesagt wird.

Für viele Franzosen ist Hollande der Kandidat des geringeren Übels, der vor allem dadurch positiv auffällt, dass er nicht ist wie Sarkozy: bedächtig statt aufgedreht, kompromissbereit statt auf Krawall gebürstet, bieder statt glamourös. Sein Programm überzeugt die wenigsten, auch bei den Wahlkampfauftritten scheint der Funke nicht recht übergesprungen zu sein.

Doch er hat die Sehnsucht der Franzosen nach Alltäglichkeit erkannt. Mit einem Seitenhieb auf Sarkozy kündigte Hollande an, ein "normaler Präsident" sein zu wollen. Während sich der Amtsinhaber gerne in knapper Montur beim Joggen, Radfahren oder Rudern fotografieren lässt, gibt es von François Hollande Bilder, die ihn behelmt auf einem dreirädrigen Motorroller zeigen.

Der scheidende Präsident, der seit Monaten mal mehr, mal weniger in den Umfragen zurückliegt, hat alle Energie aufgeboten, um das Ruder noch herumzureißen. Sarkozys Wahlkampf sei wie ein Tablet-Computer, schreibt ein - zugegebenermaßen schon etwas älterer - Kommentator des Nachrichtenmagazins Marianne: Alles bewege sich unentwegt, es falle schwer, einer Idee, einem Gedankengang zu folgen, ohne dass sich sofort wieder alles verändert. Zu sehr improvisiere der scheidende Präsident, wechsle Themen und Meinungen, ganz wie es die Umfragen ihm nahelegten. Offenbar habe der ideenflüchtige Fantast nichts mehr zu verlieren, nicht einmal mehr seine Würde.

Bilanz von Nicolas Sarkozy
:Model geheiratet, Burka verboten

Nicolas Sarkozy hat in seiner Amtszeit als französisches Staatsoberhaupt ein Model geheiratet, die Burka verboten, Diktatoren empfangen und sie später verjagt. Und sonst? Die Bilanz seiner Regierungszeit.

Lilith Volkert

Zuletzt klang Sarkozy tatsächlich zunehmend verzweifelt. "Franzosen, hört meinen Ruf! Helft mir, helft Frankreich!" rief er vergangenen Sonntag bei einer Veranstaltung auf der Place de la Concorde. Bei seinem letzten Wahlkampfauftritt am Freitag in Nizza beschwor er die Franzosen, er brauche jetzt jede einzelne Stimme für sein "starkes Frankreich". Begleitet wurde er von Bernadette Chirac, der Frau von Sarkozys Vorgänger. Der 79-jährige Ex-Präsident selbst soll gesundheitlich nicht auf der Höhe sein. Außerdem macht das Gerücht die Runde, Jacques Chirac, der Sarkozy noch immer eine 17 Jahre zurückliegende Illoyalität nachträgt, wolle am Sonntag für Hollande stimmen.

Zumindest zwischenzeitlich haben die Franzosen nun Ruhe von ihren Spitzenpolitikern. Seit Samstag null Uhr herrscht striktes Wahlkampfverbot: Keine Reden, keine Auftritte, sogar die Facebook-Seiten der Kandidaten sind gesperrt. Das französische Gesetz verordnet Parteien und Umfrageinstituten Stillschweigen, bis am Sonntag um 20 Uhr die letzten Wahllokale schließen. Vergleichsweise ruhig ist es auch in Paris, viele Franzosen sind in den Ferien - was Politikern und Demoskopen Sorgen bereitet.

Denn ein Drittel der Wahlberechtigten will Umfragen zufolge, ob nun aus Bequemlichkeit oder aus Politikverdrossenheit, gar nicht wählen. Viele Franzosen haben das Gefühl, dass der Wahlkampf an ihnen vorbei ging. Die wirklichen Probleme - fast zehn Prozent Arbeitslosigkeit, die stark gestiegene Staatsverschuldung, die Folgen der Eurokrise - tauchten nur am Rande auf oder wurden mit unrealistischen Versprechen vom Tisch gewischt. "Wer lügt mehr? Wer lügt besser?" titelt ein großes Nachrichtenmagazin unter Bildern der fünf größten Kandidaten, die allesamt die Hand Vertrauen heischend aufs Herz legen.

Revolution an der Wahlurne

Viele der zehn Kandidaten nutzten ihre Abschlusskundgebungen dafür, die Franzosen aufzufordern, doch bitte von ihrem Stimmrecht Gebrauch zu machen. Denn eine geringe Wahlbeteiligung hat schon einmal für eine große Überraschung gesorgt. Am 21. April 2002, fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, warf der Rechtsextreme Jean-Marie Le Pen den Sozialisten Lionel Jospin im ersten Wahlgang aus dem Rennen.

Viele Wähler waren zu Hause geblieben, andere, vor allem Linke, hatten ihren Stimme aus Protest einem der kleineren Kandidaten gegeben. Mit der Folge, dass Jospin 0,68 Prozent hinter Le Pen lag und nicht in die Stichwahl einziehen durfte. Dass ein Rechtsextremist dem Präsidentenamt einmal so nahe gekommen ist, hat Frankreich nachhaltig erschüttert.

Es ist eher unwahrscheinlich, dass Le Pens Tochter und Nachfolgerin Marine an diesem Sonntag dasselbe Kunststück gelingt. Sie liegt knapp zehn Prozent hinter dem Zweiplatzierten. Doch allzu sehr in Sicherheit wiegen will sich niemand. Die Franzosen misstrauen den Umfrageinstituten, die bei den letzten beiden Wahlen regelmäßig mehrere Prozentpunkte daneben lagen. Und die Demoskopen misstrauen den Franzosen: Wer will schon wahrheitsgemäß sagen, dass er für eine rechtsextreme Kandidatin ist? Lieber eine Revolution an der Wahlurne anzetteln.

© Süddeutsche.de - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: